Zunächst fiel es Rasmus nicht leicht, seine Geschichte zu erzählen. Aber je mehr er von sich preisgab, desto mehr sprudelte es aus ihm heraus. 'Na ja, es war ein langer Weg, der schon zu Hause begonnen hatte. Ich bin, was man einen Jungen aus gutem Hause nennt, komme aus einer jütländischen Kleinstadt, aus einer guten Familie, bin behütet aufgewachsen. Keine schwere Jugend, kein brutaler Vater. Meine Eltern waren Ärzte, beide, sie hatten eine Praxis, die ich einmal übernehmen sollte.
'Also habe ich angefangen, Medizin zu studieren. Nicht, dass es mir Spaß gemacht hätte, aber das war einfach meine Bestimmung, schlicht und ergreifend. Als ich im zweiten Semester war, starb meine Mutter, Krebs. Meine Eltern hatten die Krankheit, solange es ging, vor mir geheim gehalten. Und dann ging alles ziemlich schnell. Mein Vater kam mit dem Tod meiner Mutter nicht zurecht und machte sich wohl auch Vorwürfe, dass er ihr als Arzt nicht hatte helfen können. Er fing an zu trinken, machte Behandlungsfehler. Am Ende ließ sich das nicht mehr vertuschen, und er kam vor Gericht. Einen Tag vor der Verhandlung fuhr er im Vollrausch gegen einen Brückenpfeiler. Unfall, hieß es. Aber ich glaube, er konnte nicht mehr und hat Selbstmord begangen.
'Mein ganzes wohlgeordnetes, wohlbehütetes Leben lag auf einmal in Trümmern. Aber was für mich am Schlimmsten war, unter all dem gutbürgerlichen Komfort gab es nichts, was meinem Leben und meinen Plänen Sinn gegeben hätte. Das Medizin-Studium habe ich hingeschmissen und habe dann angefangen Philosophie zu studieren. Geldsorgen hatte ich nicht, mein Vater hatte mir eine ordentliche Summe Geld hinterlassen.
'Ich habe an der Uni Sinn gesucht, aber den in den Büchern auch nicht gefunden. Dann bin ich nach Indien gegangen und wollte dort etwas gegen die Armut tun. Ich dachte, wenn ich den Armen helfe, helfe ich mir. Ich Idiot! Ich war ein abgebrochener Student und außerdem total kaputt. Wie hätte ich da irgendjemandem helfen können. Wenn ich wenigstens mein Medizinstudium beendet hätte. So habe ich dann in einem Kinderheim mitgearbeitet. Aber da hat man mich auch nur genommen, weil ich ganz ordentlich dafür bezahlt habe.
'Als ich dort mit dem ganzen Elend konfrontiert wurde, bin ich damit nicht fertig geworden. Ich war psychisch total erledigt und bin dann krank geworden, so krank, dass ich nach zurück Hause musste. In Dänemark war ich im Krankenhaus, hatte einen Nervenzusammenbruch und bin in der Psychiatrie gelandet. Als ich da wieder rausgekommen bin, wollte ich Schluss machen. Ich wollte mich vor einen Zug werfen. Spät abends bin ich mit dem Bus raus zur Bahnlinie gefahre, aber auf dem Weg von der Bushaltestelle zu den Gleisen habe ich mich verlaufen. Gelandet bin ich Sequitanien, aber nicht wie Du in Wassenpol, sondern an der Küste, nördlich von Norminburg.
Ich war völlig durch den Wind, und Sequitanien war zunächst für mich auch nicht wirklich, was ich brauchte. Ich bin durch die Lande gezogen und war auf dem besten Weg, ein Ausgeschlossener zu werden, denn ich wollte mich nicht anpassen. Und das will was heißen, hier in Sequitanien, wo Dich die Leute eigentlich in Ruhe lassen. Aber ich habe getrunken und Streit gesucht. Na ja, und dann habe ich Restania getroffen.'
'Eine Geliebte?' Der Fährmann lachte. 'Nein, eine Magierin. Eine Frau, die tief in mich hineinsah und erkannte, wie kaputt ich war. Sie hat sich meiner angenommen. Magie war auch mit im Spiel, denn sie hat mir eine Seelenruhe gegeben, die anders nicht zu erklären gewesen wäre. Sie hat die Kluften in meiner Aura geglättet, hat sie gesagt. Frag mich nicht, was das heißt. Aber danach ging es mir jedenfalls besser. Und dann hat sie mir die Augen geöffnet. Ich habe erkannt, dass ich den Sinn meines Lebens in mir selbst finden muss, aber nicht, indem ich mich von den Menschen zurückziehe. Und eigentlich ist Sequitanien ein ganz guter Ort, um sich selbst zu finden.
'Ich bin wieder herumgezogen, aber dabei habe ich gearbeitet. Egal, was gerade anfiel. In Norrenhavn habe ich Schiffe beladen, im östlichen Grenzland habe ich Gemmel gemolken und Sassols auf die Weide geführt. Und in der ganzen Zeit habe ich mir die Menschen angesehen, ihnen zugehört und mit ihnen gesprochen. Ich habe angefangen, Menschen um mich herum wahrzunehmen, mit ihren guten und schlechten Eigenschaften. Irgendwann war ich dann auch selber wieder da. Als ich nach Geerenfurt kam, wurde gerade ein Fährmann gesucht. Das war wie ein Zeichen, ich kam mir vor wie Siddharta.'
'Was? Wie wer?' 'Du weißt schon, Hermann Hesse, der Schriftsteller, sein Buch Siddharta, von dem Mann, der auf der Suche nach dem Sinn ist und dann an den Fluss kommt und lernt, auf das Murmeln des Flusses zu hören. Jetzt sitze ich hier, höre auf das Murmeln des Flusses, beobachte die Menschen, die an mir vorbeiziehen, und zum ersten Mal seit langem habe ich nicht mehr das Gefühl, auf der Suche zu sein.'
Georg Milden hatte konzentriert und mit Anteilnahme zugehört. Das Schicksal des Jüngeren hatte etwas Deprimierendes, aber der Fährmann wirkte nicht deprimiert. So ganz war er sich nicht sicher, ob er das alles nachvollziehen konnte. Aber es war deutlich, dass der verschlungene Lebensweg des Dänen für diesen selbst Sinn machte.
'Eins wundert mich. Du hast gerade eben vom Elend in Indien gesprochen. Ich meine, es gibt Leute auf der Welt, in unserer Welt, Anderland, denen es viel schlechter geht als Dir und mir. Aber wen habe ich bis jetzt getroffen: zwei Schweden, einen Schweizer, einen Briten, eine Französin und einen Dänen. Wir gehören ja nicht gerade zu denen in Anderland, denen es am Schlechtesten geht. Wo sind denn die Inder, die Afrikaner, die armen Schweine aus der Dritten Welt?' Der Fährmann lachte. 'Du hast nicht noch kapiert, was es mit Sequitanien auf sich hat, oder?'
'Worum geht es denn?' 'Wenn man aus unserer Welt kommt, dann kommt einen Sequitanien zunächst wie das Paradies vor: kein Mangel, keine Krankheiten und vor allem kein Stress. Und ins Paradies, das wissen wir alle aus der Bibel, kommen die netten Menschen und die, die ganz arm dran sind. Aber genau so ist das hier eben nicht. Es kommen auch Leute nach Sequitanien, die nicht nett sind. Natürlich hat jeder Anderländer, den es hierhin verschlagen hat, seine persönliche Krise gehabt. Aber es kommen nicht die hier an, denen es am Dreckigsten geht, sondern die, die sich am meisten Leid tun. Selbstmitleid öffnet die Pforte, nicht Ungerechtigkeit. Das hier ist eben nicht das Paradies, Sequitanien ist die zweite Chance.'
Er sah, dass Georg Milden unangenehm berührt war. 'Klar, wir sehen uns alle gerne als Opfer, und irgendwie sind wir es vielleicht auch. Aber unsere gescheiterten Träume bringen uns zur Pforte, nicht das Leid, das wir erfahren.'
Georg Milden dachte nach. Er hatte das Gefühl, dass der junge Mann Dinge ergründet hatte, die er selbst noch nicht wirklich verstehen konnte, so sehr er auch darüber nachdachte. Doch der Fährmann fuhr fort. 'Es gibt übrigens auch Inder hier und Südamerikaner und Afrikaner, aber nicht so viele, wie man erwarten würde. Ich glaube, dafür es gibt noch einen anderen Grund.' 'Nämlich?' 'Familie, Georg. Familie. Niemand kommt nach Sequitanien, der da drüben in Anderland etwas hat, was ihn hält. Doch in Europa treiben wir zunehmend isoliert durchs Leben, selbst wenn wir Verwandte und Angehörige haben, so geben sie uns doch oft nicht wirklich Halt, sondern gehen uns eher auf die Nerven. Ich meine, ich habe auch noch Verwandte, aber nach dem Tod meiner Eltern hat sich niemand wirklich um mich gekümmert. Das ist auf anderen Kontinenten immer noch ein bisschen anders. Deshalb treiben wir in Europa und Nordamerika eher isoliert und losgelöst durchs Leben und landen daher auch öfter in der Pforte nach Sequitanien.'
Es war schon spät, und sie hatten schwierige Themen gewälzt. Georg Milden wusste nicht so recht, was er jetzt noch sagen sollte. Nach diesem Gespräch wollte er nichts Banales sagen, aber auch kein neues Thema mehr anschneiden. Aber dann kam ihm doch noch eine Frage in den Sinn, die ihn umtrieb.
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