Am späten Nachmittag trafen sie an der Brücke ein, die über den Furbar nach Geerenfurt hineinführte. Der Fuhrmann, dem das Unbehagen seines Fahrgastes in den sequitanischen Herbergen am Weg nicht verborgen geblieben war, empfahl ihm, im 'Flinken Hasen' abzusteigen, das von einem Anderländer geleitet wurde. Georg Milden stimmte dem Vorschlag erleichtert zu. Und es dauerte dann auch nicht mehr lange, bis sie vor der Tür der Herberge anhielten, wo er das Bronzeschild mit einem rennenden Hasen sah. Da dämmerte es ihm, dass ein Hase den Sequitaniern nicht weniger fremdartig und seltsam erscheinen musste, als es ein Gemmel oder ein Sassol für ihn war. Und der Flinke Hase erwies sich dann auch als so etwas wie ein 'anderländisches Spezialitätenlokal'.
Das Haus lag am Furbar, und der Wirt gab Georg Milden ein Zimmer mit Blick auf den Fluss. Der Besitzer des Gasthauses nannte sich Frederico und kam aus der Schweiz. Den Nachnamen erfuhr Georg Milden nicht an dem Tag seiner Ankunft und auch nicht an den Folgetagen. Frederico ließ durchblicken, dass er ein großes Hotel in der Schweiz gemanagt hatte. Im Laufe seines Aufenthalts entstand bei Georg Milden aber auch der Eindruck, dass Frederico in der Schweiz möglicherweise keine ganz reine Weste gehabt haben mochte.
Aber mit dem Gasthaus hatte der Reisende es jedenfalls gut getroffen. Die Zimmer und überhaupt das ganze Haus waren reinlich, ganz so wie man es von einem Schweizer Gasthof erwartete. Und Frederico hatte seinem Koch tatsächlich beigebracht, aus Sagos-Knollen ein anständiges Rösti herzustellen. Und das Raclette aus Gemmelkäse war auch nicht schlecht.
An jenem ersten Tag unternahm Georg Milden, nachdem er sein Zimmer bezogen hatte, noch einen Spaziergang durch die Stadt. Im Vergleich zu Köln war Geerenfurt nun wirklich keine besonders beeindruckende Stadt, zumal es auch hier keine Anzeichen von moderner Technik gab. Die Straßen waren gepflastert, einige waren breit genug für die Sassol-Wagen, andere waren enge, verwinkelte Gassen. Die Häuser waren immerhin zwei- oder dreistöckig. Verglichen mit Wassenpol war Geerenfurt eine Metropole.
Die Stadt lag auf einer Insel, ein schmalerer Flussarm umschloss die Innenstadt von Geerenfurt auf der anderen Seite. Jenseits dieses Flussarms erhob sich ein Hang, an dem auf einer Anhöhe noch einige Häuser standen. Dahinter erstreckte sich ein dichter Wald, dessen Ausläufer bis ans obere Ende der Stadt reichten. Aus dem Wald ragten steile Felszinnen heraus.
Der andere Flussarm war zwar schmaler, aber hier gab es keine Brücke, nur eine Fähre. Der Fährmann winkte Georg Milden zu, und dieser winkte zurück, ging aber weiter. Am oberen, flussaufwärts gelegenen Ende der Insel sah er einen kleinen Hügel, auf dem eine Burg stand. Diese lehnte an einer Felsnase, die in den Bau integriert war und auf deren Gipfel ein Turm stand. Die Stadt selbst hatte keine Stadtmauer, brauchte allerdings auch keine wegen des Furbars, der um sie herum floss. Für seinen ersten Tag in der Stadt hatte der Anderländer genug gesehen, die Dunkelheit war angebrochen, und überall wurden Fackeln entzündet. Müde aber auch zufrieden darüber, dass der erste Abschnitt seiner Reise beendet war, kehrte Georg Milden in sein Gasthaus zurück.
Am nächsten Tag schlief er lange und nahm ein spätes, aber reichliches Frühstück zu sich, mit Rösti, Käse, Speck und Eiern, aber ohne Flappich, weder gekocht noch eingelegt.
Gesättigt, gestärkt und mit sich und der Welt zufrieden, fragte er nach der Werkstatt des Schmieds Thorwald. Frederico zögerte spürbar mit der Antwort. 'Sind Sie ein Freund von Thorwald, dem Schmied?' 'Nein, ich kenne ihn nicht. Woher auch? Ich meine, ich bin zum ersten Mal in Geerenfurt und gerade einmal zwei Wochen in Sequitanien. Ingrid Hansson, die schwedische Wirtin in Wassenpol, hat mir von ihm erzählt. Ich soll ihn von ihr grüßen.' Der Wirt wirkte irgendwie erleichtert. 'Nun, dann gehen Sie hin und richten Sie die Grüße aus. Freund Thorwald wohnt im Settwald-Quartier. Das ist der Stadtteil auf der anderen Seite des Nebenarmes. Sie müssen mit der Fähre hinüberfahren. Und ich hoffe, sie sind gut zu Fuß, denn Thorwalds Haus liegt ziemlich weit oben, am Waldrand. Man hat von dort aus auf jeden Fall eine schöne Aussicht auf die Sarkens-Berge.'
Die kühle Reaktion des Schweizers, als er den Namen des Schwedens hörte, hatte Georg Milden überrascht. Eigentlich hätte er vermutet, dass Anderländer in dieser fremdartigen Welt den Kontakt zueinander suchen würden. Nun, was immer zwischen den beiden vorgefallen war, das war ganz gewiss nicht sein Problem. Und wo die Fähre zu finden war, das wusste er ja schon. Also machte er sich auf den Weg, und als er zu dem Übergang kam, lag die Fähre bereits am richtigen, stadteinwärts gelegenen Ufer.
Die Fähre war an einem Führungsseil befestigt, einem dicken Tau, das quer über den Fluss gespannt war. An jedem Ufer standen zwei Sassols an einer Winde bereit. Georg Milden ging zu der Anlegestelle, wo der Fährmann die Morgensonne genoss. Er war ein relativ kleiner und schmächtiger Mann mit rötlichen Haar und einem rötlichen Bart, und beides wirkte etwas ungepflegt. Der Fährmann mochte 30 Jahre alt sein, vielleicht auch etwas jünger. Er trug eine dunkle, lange Hose, Stiefel und eine ärmellose, dunkle Weste, aber kein Hemd darunter. Seine Haut war von der Sonne gebräunt.
'Entschuldigen Sie, Fährmann. Ich bin fremd hier und möchte übersetzen.' 'Anderländer, stimmt's?' 'Ja, woran sieht man das?' 'Du hast Dich so unsicher umgesehen. Sequitanier sind nie unsicher, selbst wenn sie fremd sind, hast Du immer irgendwie das Gefühl, sie gehören dazu. Ich bin übrigens auch Anderländer, Rasmus, aus Dänemark.' Georg Milden war etwas überrascht, hier an der Fähre einen Anderländer zu treffen.' 'Ich heiße Georg, aus Deutschland.' Unterdessen waren die beiden auf die Fähre gegangen, und der Fährmann war dabei, die Taue zu lösen. 'Wie lange bist Du schon hier, Georg?'
Der Ältere empfand ein gewisses Unbehagen dabei, von dem Jüngeren so ganz ohne Umschweife geduzt zu werden, bemühte sich aber, dies nicht zu zeigen. 'Noch nicht lange. Etwas über zwei Wochen, ich komme jetzt aus Wassenpol. Und wie lange bist Du schon hier?' 'Fünf Jahre, aber hier in Geerenfurt lebe ich seit etwa einem Jahr.'
Die Fähre war jetzt frei und bewegte sich langsam zur Flussmitte hin. Der Fährmann stieß einen lauten Pfiff aus, und die Sassols setzten sich schwerfällig in Bewegung. Die Fähre nahm etwas Fahrt auf und glitt gemächlich am Führungsseil entlang. 'Wann bist Du in Geerenfurt angekommen?' 'Gestern.' 'Bist Du bei Frederico abgestiegen?' 'Ja. Ist das so naheliegend, ich meine, weil ich Anderländer bin?' 'Klar. Er ist der einzige anderländische Gastwirt in Geerenfurt. Aber er ist auch verdammt gut. Selbst Sequitanier steigen gerne bei ihm ab. Ein komischer Vogel. Aber das bin ich wohl auch, ein komischer Vogel, meine ich. Und was er macht, macht er richtig, vor allem wenn es auf der Speisekarte steht. Wie lange bleibst Du in Geerenfurt?'
'Das weiß ich noch nicht. Ich will mir zunächst die Stadt ein wenig ansehen. Sequitanien ist für mich immer noch ein Rätsel. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich genug gesehen habe, dann soll es weiter gehen zur Küste. Ich will nach Norminburg. Da ich nichts Besseres zu tun habe, will ich mir mal ansehen, wie es im Zentrum der Macht aussieht. Aber jetzt möchte ich erst einmal zu Thorwald, dem Schwertschmied. Er ist auch ein Anderländer, Du kennst ihn bestimmt.' Der Fährmann lachte spöttisch.
'Kennen. Natürlich kenne ich ihn. Wer kennt ihn nicht, Thorwald, den großen Schmied? Die Frage ist, ob er mich kennt, oder besser, ob er mich kennen will.' 'Was ist mit ihm? Ingrid Hansson hat mir von ihm erzählt, die Wirtin in Wassenpol. Ich dachte, ich sollte mal vorbeischauen und Grüße ausrichten.'
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