Natürlich war Georg Milden noch nicht lange genug in Sequitanien, um beurteilen zu können, ob eine derartige Haltung gerechtfertigt war. Aber er wusste, dass er nicht so an die Dinge herangehen würde. Er selbst würde versuchen, diese Welt erst zu verstehen, ehe er entscheiden würde, wie er sich zu den Dingen stellen würde.
Der Abstieg war erwartungsgemäß weitaus weniger anstrengend, und am späten Nachmittag waren sie wieder zu Hause. Der Besucher hatte geplant, am nächsten Tag nach Wassenpol zurückzukehren. Und als am Abend die Händler eintrafen, fand er schnell einen, der mit seinem Wagen nach Wassenpol unterwegs war und einen Mitfahrer gerne aufnahm.
Am nächsten Morgen stand Georg Milden früh auf, um die Mitfahrgelegenheit nicht zu verlieren. Seine Gastgeber waren auch schon auf den Beinen. Er bedankte sich überschwänglich und aufrichtig bei ihnen, und das Paar lud ihn ein, auf jeden Fall doch einmal wieder zu kommen. Dann brach er auf, zurück nach Wassenpol, wohl wissend, dass er auch dort nicht mehr lange bleiben würde. Der Fahrer des Sassol-Karrens war erheblich gesprächiger als der auf der Hinfahrt. Er hatte viele Fragen an Georg Milden und wollte wissen, wie Anderland denn so war. Was sein Fahrgast ihm zu erzählen hatte, fand er ausgesprochen seltsam.
Seinerseits erzählte der Fahrer von seiner Familie, seinem Leben als Fernhändler (nach sequitanischen Maßstäben) und den Alltagssorgen, etwa genügend Sassol-Futter in den Deimon-Bergen aufzutreiben. Insgesamt schien sein Leben wenig aufregend zu sein. Immerhin sei das Reisen in diesen Teilen des Landes sicher, anders als in den östlichen Provinzen an der Grenze. Georg Milden fragte nach, aber viel Konkretes hatte der Händler nicht zu berichten. Man würde halt immer wieder davon hören, dass Ausgeschlossene über den Dämmernis-Fluss kämen, um dort Reisende zu überfallen. Aber das sei nicht ungewöhnlich, außerdem geschehe dies im fernen Osten an der Grenze. Man brauche sich hier darüber keine Sorgen zu machen.
Sehr vorsichtig sprach Georg Milden auch das Thema Magie an, erwähnte, dass es dies in seiner Welt nicht gebe. Der Händler aus dem Noirau-Tal reagierte weitaus weniger explosiv als Andries vom Holmhof. Tja, die Magier, seltsam seien sie schon. Aber die meisten würden ihre Kräfte einsetzen, um den Menschen zu helfen. Und das sei ja wohl in Ordnung, nicht alle seien arrogant und abweisend.
Kurz vor Wassenpol setzte der Händler seinen Fahrgast ab, da er selbst noch eine Ladung bei Lord Firrenbrock abzuliefern hatte. Georg Milden bedankte sich für den angenehmen Trip und ging das letzte Stück zu Fuß. Es war ein schöner Abend (erst in der Nacht würde es wieder regnen). Und zufrieden mit sich und voll Erwartung auf das, was kommen würde, jetzt wo er entschlossen war, den nächsten Schritt zu tun, wanderte er nach Wassenpol hinein.
5. Ein Fährmann in Geerenfurt
Wieder stieg Georg Milden bei Ingrid Hansson in der Goldenen Fackel ab, wo sein Zimmer bereits auf ihn wartete. Eigentlich hatte er erwartet, schnell einzuschlafen und bis zum Morgen durchzuschlafen. Aber der Schlaf wollte sich nicht einfinden. Zu viele Gedanken gingen in seinem Kopf umher. Es waren nicht eigentlich Nervosität oder gar dunkle Vorahnungen, es war vielmehr die Erregung, einen Schritt in ein völlig neues Leben zu wagen.
Bis jetzt waren die Tage in Sequitanien eigentlich so etwas wie ein unerwarteter Urlaub gewesen, aber dieser ging jetzt seinem Ende entgegen. Georg Milden würde sein Leben wieder selber in die Hand nehmen und war aufgeregt. Das letzte Mal hatte er so eine Aufregung gefühlt, als er seinen gegenwärtigen Job in Köln drüben in Anderland angetreten hatte. (Gegenwärtig? - Hatte er die Stelle überhaupt noch?) Mit großen Erwartungen und einiger Unsicherheit war er damals gestartet. Am Anfang hatte er sich dort auch wohl gefühlt, aber später hatte er nur noch das Gefühl gehabt, in Treibsand zu joggen. So sehr er sich auch angestrengt hatte, er kam kaum vorwärts und versank immer tiefer im Alltagsstress. Jetzt hatte er mit einem Mal ganz unerwartet eine neue Chance erhalten, und die wollte er auch nutzen.
Am nächsten Tag informierte er Ingrid Hansson von seiner Absicht, bald abzureisen. Sie war nicht besonders überrascht, schließlich war er nicht der erste Anderländer, der durch Wassenpol nach Sequitanien gekommen war. Aber etwas traurig schien sie schon zu sein. Zunächst waren aber noch einige Vorbereitungen zu tätigen. Georg Milders erbat von Lord Firrenbrock noch einmal die Erlaubnis, für einen Tag in der Mine zu arbeiten, um auch wirklich genug Silber für eine längere Reise in der Tasche zu haben. Diese Erlaubnis wurde selbstverständlich gewährt.
Er kaufte auch noch eine Garnitur Kleidung beim Schneider. Und abends in der Gaststube geizten seine neuen Freunde nicht mit allen möglichen guten oder zumindest gut gemeinten Ratschlägen. Seine erste Station würde Geerenfurt sein, die Hauptstadt der Provinz. Von Ingrid Hansson erfuhr er, dass dort ein Schwede namens Thorwald als Waffenschmied arbeitete.
Außerdem arrangierte Ingrid Hansson für ihn eine Mitfahrgelegenheit auf einem Transport nach Geerenfurt. Ein befreundeter Fuhrmann brachte eine Fuhre Leder in die Provinzhauptstadt. Die Reise würde drei Tage dauern, und er war gerne bereit, Georg Milden mitzunehmen. Und so brach dieser dann vier Tage nach seiner Rückkehr aus dem Deimon-Wald auf, um sich eine neue Welt zu erschließen. Der Abschied von Ingrid Hansson war nicht ganz einfach, denn sie hatte ihn in diesen ersten Tagen unter ihre Fittiche genommen und ihm die Eingewöhnung in Sequitanien erheblich erleichtert.
Am ersten Tag fuhren sie in Richtung Süden bis Netstad, einer kleinen Stadt am Fuße der Sarkens-Berge, Jenseits dieser Berge lag das Furbar-Tal, das zum Großen Westlichen Ozean hinführte. Netstad besaß tatsächlich eine Stadtmauer, auch wenn der Fuhrmann nicht genau sagen konnte, warum das so war. Es war nun einmal so, dass Städte eine Mauer hatten.
Es war Nachmittag, als sie die Stadt erreichten, und am nächsten Morgen wollten sie schon wieder früh aufbrechen. Dies war die erste Nacht, die Georg Milden in einem Haus verbrachte, das nicht von Anderländern geführt wurde. Hier wurde er mit voller Wucht mit der sequitanischen Küche konfrontiert, was kein uneingeschränktes Vergnügen war. (Zurtenfleisch in saurer Gemmelmilch mochte eine sequitanische Delikatesse sein, doch für anderländische Zungen war dieses Gericht eher gewöhnungsbedürftig.) Am nächsten Tag ging die Reise weiter. Aber wenn Georg Milden erwartet hatte, dass die Sarkens-Berge genauso wild sein würden wie die Deimon-Berge, so wurde er enttäuscht.
Die Berge waren eigentlich nur sanfte Hügel und auch nicht flächendeckend bewaldet. Immer wieder sahen die Reisenden Höfe und Weiden mit Gemmel und Zurten. Abends erreichten sie ein kleines Dorf, das zwischen zwei niedrigen Hügelketten lag. Dort verbrachten sie eine weitere Nacht in einem sequitanischen Gasthaus.
Georg Milden fühlte sich dort ziemlich verloren. Weit und breit war er der einzige Anderländer unter Sequitaniern, die ihn nicht kannten und sich auch nicht weiter um ihn kümmerten. Der Fuhrmann war geduldig und rücksichtsvoll und beantwortete alle Fragen, die sein Fahrgast hatte, so gut er konnte. Aber für auch ihn war so eine lange Fahrt anstrengend, und morgens und abends benötigten die Sassols seine Aufmerksamkeit. Für seinen Gast blieb da abends nicht mehr so viel Zeit.
Am Mittag des dritten Tages verließen sie die Sarkens-Berge und sahen den Furbar, der schon hier an seinem Oberlauf ein stattlicher Fluss war. Auf der anderen Seite des Furbars erhoben sich die Höhenzüge des Jonos-Gebirges, das weit beeindruckender war als die Sarkos-Berge. Das Flusstal war ziemlich dicht besiedelt und Sassol-Karren, schwer beladen, waren auf der Straße in beiden Richtungen unterwegs. Auf dem Fluss sah man Kähne und Flöße. Dieser Teil Sequitaniens mochte nicht so hektisch sein wie das Köln des 21. Jahrhunderts, aber verglichen mit der Ruhe und Gelassenheit in Wassenpol war hier doch schon eine Menge los.
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