1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Von Ingrid Hansson erfuhr er mehr über das sequitanische Liebesleben, das trotz der altertümlich wirkenden Umgebung gar nicht altertümlich war. Prüde waren Sequitanier zumindest nicht. Eheleute konnten voneinander Treue erwarten, aber die Ehe als Lebensform war keineswegs vorgeschrieben. Wer allein bleiben wollte, konnte dies tun und sich nach Laune und Geschmack Partner für gelegentliche heiße Stunden aussuchen. Was Erwachsene untereinander taten, interessierte die Sequitanier wenig. Georg Milden erfuhr auch, dass Ingrid Hansson darauf verzichtet hatte, sich einen festen Partner zu suchen. Insgeheim hoffte er, dass sie ihm die Gelegenheit geben würde, mal eine Nacht mit ihr zu verbringen, aber dieses Angebot blieb aus.
Obwohl jeder Sequitanier sich problemlos Silber in den Minen beschaffen konnte, war es doch allgemein üblich zu arbeiten. Nur wenn jeder seinen Teil beitrug, konnte das Gemeinwesen gedeihen. Silber konnte man nicht essen und auch nicht anziehen.
Andererseits schien auch kaum jemand unter seiner Arbeit zu leiden oder Stress zu empfinden. Es gab keine stumpfsinnigen Arbeitsabläufe, keine tyrannischen Chefs, keine Handies, die nach Feierabend oder am Wochenende klingelten. Es wirkte alles fast zu schön, um wahr zu sein. Aber allem Anschein nach funktionierte diese Welt, auf jeden Fall im Idyll von Wassenpol.
Auch wenn noch niemand entsprechende Andeutungen gemacht hatte, so war Georg Milden doch klar, dass er irgendwann seinen eigenen Platz in dieser Gesellschaft finden musste. Doch noch hatte er keine Ahnung, wo dieser Platz sein würde.
Bei einem seiner Besuche auf dem Holmhof traf er 'Onkel Roger' und 'Tante Nadine'. Roger Hartfort war ein dunkelhäutiger Engländer, Nadine Delmar eine sehr hellhäutige, rothaarige Französin. Sie bewirtschafteten einen Hof in den Deimon-Bergen. Gleichzeitig führten sie dort auch einen Gasthof für Reisende, die über die Deimon-Berge in das Noirau-Tal unterwegs waren. Ihr Hof lag eine Tagesreise (mit dem Sassol-Wagen) von Wassenpol entfernt.
Die beiden waren Aussteiger, allerdings hatten sie den Ausstieg erst nach ihrer Ankunft in Sequitanien geschafft. Roger Hartfort war ein erfolgreicher Ingenieur in der Luft- und Raumfahrt-Industrie gewesen, ein Überflieger, für den die Arbeit immer im Lebensmittelpunkt gestanden hatte, ehe er mit 44 Jahren einen Herzinfarkt erlitt. Als er im Krankenhaus lag, hatte er endlich gemerkt, dass seine Ehe nur noch auf dem Papier bestand. Sein Arbeitgeber hatte ihm hoch und heilig versichert, dass man selbstverständlich auch in Zukunft noch Verwendung für ihn haben würde. Doch gleichzeitig hatte man seine Stelle mit einem jüngeren Kollegen (und Konkurrenten) neu besetzt.
Als er aus dem Krankenhaus in die Reha kam, wurde ihm klar, dass seine Zukunft hinter ihm lag. Von einem Waldspaziergang war er nicht in die Klinik zurückgekehrt, sondern stattdessen in Sequitanien gelandet.
Madame Delmar hatte in einer PR-Agentur gearbeitet, war nicht verheiratet, aber mit einem der Partner der Firma liiert, seit Jahren. Der hatte ihr den Laufpass gegeben, wegen einer Jüngeren natürlich. Anstatt das hinzunehmen, hatte sich das Leben nehmen wollen. Sie war zu einer hohen Brücke unterwegs gewesen, von der sie sich hatte hinabstürzen wollen. Unterwegs war sie in einen derart dichten Nebel geraten, dass sie bei einer Autobahnraststätte angehalten hatte. Sie hatte, ähnlich wie später Georg Milden, im Nebel einen Körper auf dem Parkplatz gesehen und war ausgestiegen, um nachzusehen. So war sie in die Pforte geraten und in Wassenpol angekommen. Auch sie hatte eine erste Zuflucht bei Ingrid Hansson gefunden, die damals gerade erst ihre Gaststätte eröffnet hatte.
Der Brite und die Französin hatten sich zufällig in Geerenfurt getroffen, der Hauptstadt der Provinz. Und jeder hatte für sich beschlossen, in Sequitanien nicht wieder Karriere machen zu wollen. Vielmehr hatten sie sich einen entlegenen Winkel gesucht, diesen in den Deimon-Bergen gefunden und sich dort niedergelassen. Es hatte an der Stelle schon einmal ein Gasthaus gegeben, das jedoch aufgegeben worden war. Sie hatten es wieder hergerichtet und boten den Reisenden auf ihrem Weg durch den Wald Herberge.
Als Georg Milden sie gut eine Woche nach seinem Eintreffen in Sequitanien auf dem Holmhof traf, waren sie sehr interessiert an seinen ersten Erfahrungen und luden Georg Milden zu sich in den Deimon-Wald ein. Und zwei Tage später traf ein Händler aus dem Noirau-Tal in Wassenpol ein, der Georg Milden eine Botschaft der beiden überbrachte. Er solle doch, wenn er wolle, am nächsten Tag mit dem Händler in den Deimon-Wald kommen, um ein paar Tage bei ihnen zu verbringen. Und Georg Milden wollte. Er gab Ingrid Hansson Bescheid, dass er für einige Tage verreisen würde, danach aber erst mal zu ihr zurückkehren wolle.
Früh am nächsten Morgen brach der Händler mit seinem Wagen, der wie üblich von zwei kräftigen Sassols gezogen wurde, zu seiner Fahrt auf. Er hatte Lederwaren mitgebracht und transportierte auf dem Rückweg Obst und Gemüse ins Noirau-Tal.
Sassols waren kräftige Tiere, wenn auch nicht besonders schnell. Gemächlich, aber mit gleichmäßigem Tempo trotteten sie voran. Bald schon rollte der Wagen am Holmhof vorbei. Dahinter stieg der Weg langsam an. Zunächst kamen sie noch an Feldern und Weiden vorbei, aber bald danach erreichten die Reisenden die Ausläufer des Deimon-Waldes.
In den vergangenen Tagen hatte Georg Milden einmal die Gelegenheit gehabt, Holzfäller in den Wald außerhalb Wassenpols zu begleiten. Und er hatte bereits festgestellt, dass die Wälder in Sequitanien sich sehr von denen in Anderland unterschieden. Die offene Landschaft mit Wiesen und Felder ähnelte den Wiesen und Feldern zu Hause, wenn man nicht zu genau hinsah. Aber der Wald verströmte einen besonderen Zauber. Die Bäume waren riesig, mit gewaltigen und hohen, aber knorrigen und verdrehten Stämmen. Hoch über dem Boden erstreckten sich ihre gewaltigen Kronen mit mächtigen Ästen und großen Blättern, durch die nur einzelne Sonnenstrahlen ihren Weg zum Waldboden fanden.
Auf dem Boden wuchsen mächtige farnähnliche Pflanzen und Ranken mit gewaltigen Blüten. Überall flogen Scharen von Insekten, einige mit großen, silbernen Flügeln, die glänzten, wenn sie durch die Sonnenstrahlen flogen. Am faszinierendsten waren aber Tiere, die wie Riesenlibellen aussahen, mit Flügeln groß wie Handteller. Sie erinnerten ihn an Elfen aus Märchen und Geschichten daheim. Sie waren nicht ganz so häufig wie diese Silber-Insekten, aber es waren doch immer noch ziemlich viele.
Der Händler war nicht sehr gesprächig, was Georg Milden sehr recht war, weil er so die Fahrt und die Eindrücke genießen konnte. Sie hielten zum Mittagessen nicht an. Der Händler hatte Reiseproviant für sich mitgenommen, und Ingrid Hansson hatte ihrem Gast Brot mit kaltem Zurtenbraten und Gemmelmilch-Käse eingepackt. Die beiden Reisenden aßen während der Fahrt auf dem Wagen, während die Sassols scheinbar unermüdlich weitertrotteten.
In den Tagen seit seiner Ankunft hatte sich Georg Milden an den Anblick dieser seltsamen, aber gutmütigen Tiere gewöhnt, ebenso an ihren eigentümlichen rollenden Gang. Sie schritten mit ihren vorderen, relativ schwachen Beinen so weit aus wie möglich und zogen dann unter Nutzung ihrer kräftigen Hinterbeine das Gewicht, wobei die Hufe der Hinterbeine fast die der vorderen Beine berührten. Dann ging das Spiel von vorne wieder los.
Unterwegs begegneten sie zwei Wagen, die ihnen entgegenkamen, ansonsten wirkte der Deimon-Wald menschenleer. Aber andere Lebewesen machten sich um so mehr bemerkbar. Sie hörten das Zirpen und Surren von Insekten und gelegentlich das schrille Schreien eines Waldtieres, das Georg Milden nicht zuordnen konnte. Es gab kein Vogelgezwitscher. In der Tat hatte der Anderländer seit seiner Ankunft auch noch keiner Vögel gesehen, sah man einmal von den Kukidoren ab, und die konnten nicht fliegen.
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