Gelähmt mussten die um Deutschlands innere Sicherheit kämpfenden Beamten so feststellen, dass sie mit ihren Problemen alleingelassen wurden.
Von Carstheims Erscheinen auf der politischen Bühne hatte dieser Lähmung aber zumindest im Süden ein Ende bereitet. Die über Jahrzehnte verärgerten süddeutschen Bürger waren mittlerweile aber davon überzeugt, dass er und die Ministerpräsidenten die seit Ewigkeiten verheimlichten Probleme des Landes angehen würden. Die klaren konservativen Vorstellungen der Sezession kamen gerade durch diese Vorfälle beim arbeitenden und arbeitswilligen Teil der Bevölkerung gut an. Die hatten nämlich genug von den Versprechungen der Berliner Parteien, dass alles gut werden würde. Dieser Traum war sowieso an der neuen, alles einnehmenden asiatischen Wirtschaftsmacht zerschellt und die arbeitslosen Bürger und Hartz IV Empfänger waren zum größten Wählerblock geworden. Deutschland jedoch war das Geld ausgegangen, um die Menschen ruhig zu stellen. Immer mehr Politiker des Südens schlossen sich deswegen von Carstheim an. Zusammen mit ihm wollten sie die Wattebäuschchen wegwerfen und den Wirtschaftskrieg zu Europas Gunsten wenden. Für sie war Deutschland zu schwerfällig geworden, um weiterhin eine Vorreiterrolle einzunehmen. Ein wirtschaftlich gesunder, entschlossener und politisch wendiger Süden hingegen, könnte Europa wandeln und mitreißen, erklärten sie in jedes Mikrofon.
Am Ende ihrer Gedanken stellte Dana den Kragen ihres Mantels hoch. Sie spielte mit dem Feuer. Sich mit dem Mann zu treffen, der seit einigen Tagen der erklärte Todfeind der Bundesrepublik Deutschland war, könnte ihr politisches Ende bedeuten. Aber ungeachtet der Gefahr loderte in ihr das Verlangen, von Carstheim zu treffen. Er hatte sie beeindruckt und das, obgleich sie einer Unzahl von mächtigen Männern begegnet war. Seine Mischung aus Charisma und innerer Überzeugung hatte sie allerdings noch bei keinem Wirtschaftsboss oder Top-Politiker erlebt. Meistens wurden die von einem ruhelosen Geist angetrieben.
Abweisend sah Dana sich jetzt um, jemand hatte ihr auf die Schulter gefasst. Sie rechnete damit, dass einer der betrunkenen Teenager Geld oder eine Zigarette von ihr wollte.
„Frau Engelhard?“
Ein circa sechzig Jahre alter grauhaariger Mann lächelte sie an und lupfte seine Chauffeurmütze.
„Ja?“ Dana erwiderte das Lächeln.
„Mein Name ist Karl. Ich bin Ihr Fahrer. Herr von Carstheim schickt mich.“
„Woher wussten Sie, dass ich es bin.“
„Herr von Carstheim hat mir ein Foto von Ihnen mitgegeben. Er betonte, dass es ihm wichtig sei, dass ich Sie unter Tausenden erkenne.“ Karl behielt das Lächeln bei und öffnete die Fond-Tür eines schwarzen BMW. Dana behielt ihrerseits das Lächeln bei und stieg ein.
„Sind Sie schon lange Fahrer bei Herrn von Carstheim?“, fragte sie, als Karl sich ans Steuer setzte.
„Seit über dreißig Jahren chauffiere ich die von Carstheims. Ich habe den Herrn Freiherr schon zu Schulausflügen gefahren“, sagte Karl nicht ohne Stolz.
„Nicht losfahren.“ Dana hatte es sich anders überlegt. Sie wollte Karl vom Beifahrersitz aus über von Carstheim ausfragen. Sie stieg wieder aus und unsicher blickte Karl sich nach ihr um und erst als sie in der Beifahrertür erschien und sich neben ihn setzte, beruhigte er sich.
Sie schwang sich in den Sitz.
„Ich darf Sie doch Karl nennen, oder?“
„Wie die gnädige Frau wünschen.“
„Danke, so ist es auch leichter, Sie auszufragen.“ Dana packte die Schlosszunge und führte sie vom Umlenker über die Brust.
„Wir werden die Einfahrt über das Nachbarhochhaus nehmen. Die beiden Gebäude haben eine gemeinsame Tiefgarage. Ist diskreter.“
„In Frankfurt ist viel Presse.“ Dana steckte die Schlosszunge ins Gurtschloss.
„Nicht mehr als sonst, nur geben sie sich in diesen Tagen zu erkennen.“
„Zwangsweise. Es gibt was zu schreiben.“
„Turbulente Zeiten.“
Drei Sätze hatten genügt, um Dana zu beweisen, dass Karl ein Meister des Small Talks war. Sie entschloss sich für einen Frontalangriff.
„Dürfte ich Sie um ihre Hilfe bitten?“
„Es wäre mir ein Vergnügen.“
„Wenn Sie den Freiherrn beschreiben müssten, wie wäre ihr Urteil über ihn?“
„Ich möchte es mir nicht zugestehen, über Herrn von Carstheim zu urteilen“, zögerte Karl nicht mit der Antwort.
Dana musste feststellen, dass ihre Überrumpelungstaktik ins Leere gelaufen war. Doch so einfach sollte Karl nicht davon kommen.
„Was denken Sie, wird in seiner Biografie über ihn stehen?“
„Ich bin nicht der Fahrer der von Carstheims geworden, weil ich mich durch Indiskretion ausgezeichnet habe.“
„Sie sind eine harte Nuss.“ Dana lehnte sich vor.
„Ich wollte Sie auch zu keiner Indiskretion auffordern. Ich bin nur ein klein wenig nervös. Beschreiben Sie mir doch bitte seine hervorstechenden Charaktereigenschaften.“ Wie von Dana erhofft, kapitulierte Karl jetzt vor ihrer entwaffnenden Ehrlichkeit.
„Herr von Carstheim ist der ehrgeizigste Mensch den ich kenne. Was daran liegen dürfte, dass seine Erziehung, von beiden Seiten der Familie, einzig auf Erfolg ausgelegt war. Für viele gilt er als skrupelloser Geschäftsmann. Im Gegensatz zu den meisten Machtmenschen sorgt er jedoch für die Menschen, die sich in seiner Obhut befinden. Er mag seine Ziele unnachgiebig verfolgen, lässt gewisse Grundsätze aber nie aus den Augen.“
„Klingt nicht nach dem Mann, den man aus der Presse kennt.“
„Die Zeitungen heben lediglich die frontale Geschäftspolitik hervor. Einige mögen sich über seine Erfolge auch beklagen können, das liegt aber in der Natur der Dinge. Man beschwert sich stets über denjenigen, der besser war oder ist, als man selbst.“
„Gibt es viele Frauen, die sich über ihn beschweren können?“, fragte Dana beiläufig.
Schmunzelnd drehte Karl seinen Kopf zur Seitenscheibe. Er hatte die Falle gewittert.
„Sein kaum vorhandenes Privatleben schirmt der Freiherr ab. Aber er bat mich darum, Sie wie ein Familienmitglied zu behandeln.“
Glücklich über diese Antwort versenkte Dana den Rücken in den Sitz. Sie schwieg und beobachtete die LCD-Leuchten des Armaturenbretts. Als sie wieder auf die Straße sah, konnte sie den Bühler Finger sehen. Das V ragte in den Frankfurter Nachthimmel. Von weitem sah der Finger aus wie ein halbfertiges Gebäude in das eine tiefe Kerbe geschlagen wurde. Beim Näherkommen konnte man aber sehen, dass dies nur eine optische Täuschung war. Der V-Ausschnitt und die oberen Etagen waren mit verdunkelten Scheiben versehen, aus ihnen drang kein Licht nach außen. Das V hingegen war selbst am Tag hell erleuchtet.
Karl steuerte den BMW aber nicht in die Abfahrt des Fingers, sondern, wie von ihm angekündigt, in die des wesentlich kleineren Nachbargebäudes. Das Parkhaus, in das sie rollten, war fast leer, nur wenige Parkbuchten waren von Autos der absoluten Luxuskategorie besetzt. Dana dachte an das Telefongespräch mit von Carstheim.
Vor zwei Stunden hatte das Handy endlich geläutet.
„Guten Abend, Frau Engelhard“, hatte von Carstheim sich gemeldet. „Ich wollte Sie fragen, ob Sie nicht Lust hätten, unser Gespräch von neulich fortzusetzen?“
„Äh, ich weiß nicht, ich …“, hatte sie gestammelt und sich darüber geärgert, dass er sie überrumpelt hatte. Von Carstheims nächsten Sätze, ließen sie aber ihren Ärger über sich vergessen.
„Frau Engelhard, wenn ein Mensch einem anderen gegenüber Sympathie hegt, ist das kein Verbrechen. Und man sollte das auch zugeben können. Mir jedenfalls geht es so. Ich würde mich wirklich freuen, Sie so bald wie möglich zu treffen.“ Von Carstheim hatte eine Pause eingelegt.
„Dass wir zwei unterschiedlichen Lagern angehören, sollte hierbei keine Rolle spielen. Immerhin gab es in der Vergangenheit eine Menge solcher Paare. Denken Sie nur an Kleopatra und Marc Anton. Wie langweilig wäre die Weltgeschichte verlaufen, wenn Kleopatra gesagt hätte: „Marc, tut mir leid, ein Treffen kommt für mich nicht in Frage. Ich kann Römer nämlich nicht leiden.“
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