Leo war die Erleichterung deutlich anzusehen. Bewegt zog er sie an sich. Sein Kuss hätte inniger nicht sein können. Arm in Arm kehrten sie in das Haus zurück. Dort setzten sie sich an den kleinen Tisch und widmeten sich dem Schachbrett.
Schon bald wurde Antonia klar, dass in ihrem Gegenüber ein hervorragender Stratege steckte. Nach wenigen Zügen hatte sie bereits mehrere Figuren an Leo verloren. Es bestand kein Zweifel daran, wer diese Partie für sich entscheiden würde.
„Der Gewinner darf sich etwas wünschen“, schlug er nicht ohne Hintergedanken vor. „Einverstanden, Antonia?“
„Wieso kommt dir dieser Gedanke erst, wenn du meine Figuren so gnadenlos dezimiert hast?“
Bemüht, ernst zu bleiben, blickte Leo auf.
„Zufall?“
„Taktik“, korrigierte sie ihn. „Aber noch habe ich nicht verloren“, fügte sie triumphierend hinzu und schlug seinen Turm. Zu spät erkannte sie, dass er diese wichtige Figur absichtlich in eine so ungünstige Position gebracht hatte. Nun war ihre Dame nicht mehr zu retten. Ohne Anstrengung gelang es Leo, sie nach drei weiteren Zügen Matt zu setzen.
„Sorry“, entschuldigte er sich sofort.
„Das muss dir nicht leidtun, Leo.“ Sie war durchaus in der Lage anzuerkennen, wenn jemand etwas besser beherrschte. „Du spielst ausgezeichnet.“
„Das war wohl eher Glück. Wäre die ehemalige Jugendmeisterin nicht jahrelang aus der Übung, hätte sie mich bestimmt ziemlich alt aussehen lassen.“
„Ich werde heimlich trainieren“, versprach sie amüsiert. „Trotzdem darfst du dir nun was wünschen“, erlaubte sie gnädig und lehnte sich bequem zurück. „Was darf es denn sein?“
Mit Lausbubenlächeln beugte sich Leo etwas vor.
„Mein Wunsch ist, dass du dir bald ein paar Tage frei nimmst, um mich auf die Insel zu begleiten.“
Ungehalten richtete sie sich kerzengerade in ihrem Sessel auf.
„Vergiss es, Leo! Anscheinend habe ich mich vorhin nicht klar genug ...“
„Antonia“, unterbrach er sie mit ruhiger Stimme. „Ich habe sehr wohl verstanden, wie sehr es einer unabhängigen Lady widerstrebt, auf fremde Kosten Urlaub zu machen. Das respektiere ich selbstverständlich.“ In seine Augen trat ein erwartungsvoller Ausdruck. „Wie wäre es aber mit Ferien, die uns beide keinen einzigen Cent kosten werden?“
Skeptisch krauste sie die Stirn.
„Wie soll das funktionieren? Per Anhalter fahren und irgendwo am Strand unter freiem Himmel campieren?“
„Mein Chef besitzt ein Ferienhäuschen auf Usedom. Zu meinen Pflichten zählt es, dort hin und wieder nach dem Rechten zu sehen. Erst gestern hat er mich während eines Telefonats daran erinnert. Er hat das Haus von seiner Lieblingstante geerbt, deshalb bedeutet es ihm sehr viel.“
„Dann ist es ihm bestimmt nicht recht, wenn du dort mit einer Fremden aufkreuzt.“
„Noch vor dem Frühstück habe ich seine Erlaubnis per E-Mail eingeholt“, behauptete Leo. „Er findet es sogar gut, wenn das Häuschen eine Weile von uns bewohnt wird.“
„Du hast ihm von mir erzählt?“
„Immerhin ist er mein Freund“, bestätigte Leo. „Bei der Gelegenheit habe ich übrigens die letzte Mail meines Vaters gelesen. Er schreibt, dass er die wundervollste Frau der Welt kennengelernt hat.“
„Hast du ihm schon darauf geantwortet?“
„Logisch: Habe auch die wundervollste Frau der Welt gefunden! Stelle sie dir bei Gelegenheit vor! Dein glücklicher Sohn. – Seine Antwort kam umgehend ...“
„Darf ich erfahren, was er dazu sagt?“
„Es tut gut zu wissen, dass ein erwachsener Sohn seinem alten Vater noch nacheifert“, zitierte Leo die Reaktion seines ehemaligen Erziehungsberechtigten. „Die Frau, der es gelungen ist, deine Mauern zu durchbrechen, muss etwas Besonderes sein. Arrangiere demnächst ein Treffen zu Viert. Bin mindestens so gespannt auf deine Wahl wie du auf meine Auserwählte.“
„Ich glaube, ich mag deinen Vater schon jetzt. Ihr scheint euch gut zu verstehen.“
„Nach dem Tod meiner Mutter sind wir eng zusammengewachsen. Ich war erst neun und vermisste sie schrecklich. Meinem Vater erging es nicht anders, aber er hat versucht, seinen Schmerz vor mir zu verbergen. Jede Nacht habe ich ihn ruhelos im Haus rumwandern gehört. Eines Abends, es war schon sehr spät, bin ich zu ihm gegangen. Zwar war ich noch ein Kind, aber ich tat wohl intuitiv das Richtige, indem ich ihn tröstend in den Arm genommen habe. In dieser Nacht haben wir zusammen um das Liebste, das uns genommen wurde, geweint und uns versprochen, immer füreinander da zu sein. Wenn einer von uns Hilfe brauchte, war der andere sofort zur Stelle. Das gilt auch heute noch.“
„Bei uns gibt es einen ähnlichen Familienzusammenhalt“, erzählte Antonia. „Nur neigen wir drei Weiber gelegentlich dazu, uns zu viele Sorgen umeinander zu machen. Meine Mutter um ihre Töchter, wir Schwestern um unsere Mama oder untereinander. Mein Vater hat das manchmal scherzhaft das Bredow-Syndrom genannt.“
„Das lässt auf einen Mediziner schließen.“
„Paps war Vollblutjurist“, verneinte Antonia. „Er lehrte Rechtswissenschaften hier an der Universität. Gleichzeitig war er ein leidenschaftlicher Kriminologe. Verbrechen auf den Grund zu gehen, zählte zu seinen Hobbys - das er übrigens mit meiner Mutter teilte.“
„Vielleicht hätte er das Rätsel um den Orchideenmörder längst gelöst“, warf Leo ein, worauf Antonia lächelnd nickte.
„Manchmal hat Paps tatsächlich mit der Polizei zusammengearbeitet. Seine Erfahrung wurde dort sehr geschätzt. Wenn es aber wie bei unserem Killer keinerlei Hinweise auf den Täter oder sein Motiv gibt, könnte selbst ein noch so kluger Kopf nichts ausrichten.“
„Wollten wir dieses Thema heute nicht meiden?“, erinnerte er sie. „Mich interessiert jetzt viel mehr, ob du dir vorstellen kannst, mich auf die Insel zu begleiten.“ Aufmerksam forschte er in ihrem Gesicht. „Oder ist dir unsere Beziehung noch zu jung, um mit mir zu verreisen?“
„Seltsamerweise nicht“, erwiderte sie nach kurzem Nachdenken. „Allerdings müsste ich erst die Dienstpläne im Institut einsehen. Zurzeit haben wir viel zu tun - besonders durch den Orchideenmörder.“
„In der Zeitung stand, dass der Killer im Vierwochenrhythmus zuschlägt. Da der letzte Leichenfund erst drei Tage zurückliegt, sollten wir unseren Urlaub dazwischen legen.“
„Könnten wir Quincy eigentlich mitnehmen?“, dachte sie an das Nächstliegende. „In der letzten Zeit habe ich ihn leider etwas vernachlässigt. Deshalb will ich ihn auf keinen Fall ausschließen.“
„Selbstverständlich nehmen wir den Burschen mit. Wo lässt du ihn eigentlich, wenn du arbeitest?“
„Als ich noch in Hannover gewohnt habe, war er tagsüber zu Hause. Bevor ich morgens zum Dienst musste, waren wir schon eine Stunde unterwegs. Meine Wohnung lag nicht weit vom Institut entfernt, so dass ich in meiner Mittagspause immer heimgefahren bin, um mit ihm Gassi zu gehen. Nur wenn ich längere Termine hatte, musste ich ihn mitnehmen. Unser Pförtner passte dann auf ihn auf. Seit ich hier lebe, bleibt er immer bis zum Feierabend bei Karl in der Pförtnerloge.“
„Fühlt er sich dort denn den ganzen Tag wohl? Der Hund braucht doch Auslauf.“
„Das ist auch nur eine Übergangslösung. Ab nächsten Monat bringe ich ihn tagsüber in der Huta unter.“
„Huta? Was ist das?“
„Eine Hundetagesstätte. Dort werden Hunde berufstätiger Besitzer von morgens bis abends betreut. Allerdings kostet das monatlich 200 €. Das ist bei mir im Moment einfach nicht drin. Erst wenn mein nächstes Gehalt auf dem Konto ist ...“
„Warum lässt du Quincy nicht bei mir?“, unterbrach er sie. „Das wäre die einfachste Lösung.“
„Wie könnte ich dir zumuten, stundenlang auf meinen Hund aufzupassen?“
Читать дальше