Er nickte seinen Schwestern zu und folgte seinem Bruder in den Stall.
„Alles in Ordnung?“, fragte er ihn beim Näherkommen.
Sepp sah auf. „Warum fragst du?“
Johann ignorierte den scharfen Ton seines jüngeren Bruders und wartete. Er wartete darauf, dass Sepp es bemerkte. Schließlich sah er seinen Bruder an und stellte die Eimer ab.
„Was willst du, das ich sage? Dass es mir leid tut?“
„Es wäre ein Anfang.“, Johann baute sich vor Sepp auf „Weißt du eigentlich wie knapp das war? Ist die klar, was du unserer Mutter angetan hast? Wie es Vater ging? Sie waren krank vor Angst um dich.“
Sepp sah auf den Boden, doch Johann spürte, dass die Reue fehlte.
„Sieh mich an!“, befahl er und Sepp gehorchte „Ich konnte dich dieses Mal davon abhalten eine Dummheit zu tun. Doch ich werde das nächste Mal vielleicht nicht rechtzeitig da sein, um dich zu hindern. Und das weißt du, ich sehe es dir an.“
Sepp sah ihm unverwandt in die Augen und der Trotz war stark in ihm. Johann kam nicht weiter an ihn heran.
„Ich versuche dich zu beschützen. Ich will, dass du lebst. Und solange du nicht dazu gezwungen wirst, bleib bei uns. Ich bitte dich.“ Bevor Johann die Tränen in die Augen stiegen, drehte er sich um und ließ seinen Bruder im Stall stehen. Er schloss beim Gehen kurz die Augen und schluckte seine Angst um Sepp hinunter. Er wollte nicht, dass man ihm seine Sorge ansah. Anna erwartete ihn draußen, sah ihn kurz an und ging neben ihm her zum Haus zurück. „Hast du mit ihm gesprochen? Über seine dumme Idee?“, fragte sie ohne ihn anzusehen.
„Ja. Von jetzt an liegt es an ihm. Er ist alt genug. Ich kann ihn nicht immer beschützen.“
Anna sah ihn kurz an und nickte ohne dass er es bemerkte. Sie wusste, dass er Recht hatte.
***
Sepp unternahm in den folgenden Wochen keinen weiteren Versuch, sich noch einmal zu melden. Das Thema wurde innerhalb der Familie auch nicht wieder aufgegriffen. Man tat, was man immer tat, wenn etwas Unangenehmes geschehen war: Man schwieg es tot. Jeder wusste es, jeder hatte Angst davor aber niemand sprach darüber. Johann auch nicht. Er widmete sich seiner Arbeit, blendete die Zustände um ihn herum aus und hoffte, dass es etwas brachte. Schon wieder waren junge Männer von zuhause fort beordert worden. Wieder waren es junge Männer, die er kannte. Sepp war nicht unter ihnen und auch sein Name war nicht gefallen. Je länger das Spiel des Krieges dauerte, desto größer war die Angst, dass die eigene Familie davon betroffen sein könnte. Der Ton innerhalb der Stadt wurde schärfer und selbst die, die die Ignoranz gepachtet hatten und nichts von alledem wissen und sehen wollten, wurden stiller, nachdenklicher, ängstlicher. Das war auch bei Johann so. Er spielte zwar während seiner Touren noch immer den charmanten Clown, er fand aber immer weniger Zuspruch. Eine ältere Frau, die Johann jeden ersten Donnerstag im Monat besuchte um ihr Kartoffeln zu liefern, mochte ihn immer besonders gern. Das zeigte sie ihm offen. Doch an diesem Donnerstag war etwas anders. Etwas war geschehen. Als sie ihm die Tür öffnete, waren ihre Haut blass und ihr Gesicht eingefallen.
„Guten Morgen Frau Kirn.“, begrüßte er sie „Ist auch alles in Ordnung?“
„Ja, ja, Johann. Grüß dich.“, erwiderte sie „Hast du alles was ich brauche?“
„Die Kartoffeln. Ein Sack, wie immer.“ Er wollte sich an ihr vorbei in die Stube drängen, doch sie ließ ihn nicht vorbei.
„Ist schon gut.“, sagte sie „Stell sie mir bitte vor die Kellertüre. Hast du auch an die Möhren gedacht?“
Die Möhren?
Sie hasste sie. Schon immer. Er konnte sich gut daran erinnern, wie sie einmal auf einem Fest darüber stritten, wie man Rüben nicht mögen konnte. Sie sagte ihm, dass es ihr schlecht werden würde, wenn sie sie nur sah. Früher hatte sie sie wohl jahrelang geerntet, was der Grund dafür sein dürfte, warum sie Rüben nicht mehr sehen konnte. „Sie sehen doch auch einfach nur blöd aus.“, hatte sie in die Runde gesagt und alle hatten gelacht.
„Möhren?“, erwiderte Johann. Er wusste, dass irgendetwas nicht stimmte.
„Ja. Ich sagte dir doch das letzte Mal, dass ich zwei Bund bräuchte. Ich backe meinen berühmten Karottenkuchen.“ Sie lächelte doch es reichte nicht bis zu ihren Augen. Sie waren voller Angst, Panik.
„Ich bin manchmal ein Schussel. Ich lege sie zu den Kartoffeln dazu.“
„In Ordnung. Danke. Ich bezahle dann beim nächsten Mal.“
Sie schloss die Tür und Johann ging zurück zu seinem Wagen, holte die zwei Bund Karotten und legte alles zusammen vor die Kellertüre. Er saß auf und fuhr davon. Zwei Querstraßen vom Haus von Frau Kirn entfernt, hielt er an und stieg ab. Er stand vor dem Haus, in dem einige seiner Arbeiter wohnten. Er klopfte und beauftragte die Kinder darin auf seinen Wagen aufzupassen. Sie freuten sich über die Gelegenheit die Pferde streicheln zu können. Johann rannte zum Haus von Frau Kirn zurück und schlich sich in den Garten. Er war nicht groß und überwiegend verwahrlost. Sie hatte keine Zeit und auch nicht mehr die Kraft, sich ihm mit aller Leidenschaft zu widmen. Das war für Johann ein Vorteil. Er pirschte sich ans Haus heran und sah durch eines der Fenster in die Küche. Frau Kirn stand mit dem Rücken zu ihm und goss Tee auf. Im angrenzenden Wohnzimmer saß ein Mann in einer Soldatenuniform. Seine Waffe ruhte neben ihm auf dem Tisch.
Ein stilles Versprechen.
Er wusste nicht, wer er war. Er hatte ihn noch nie gesehen. Was geht hier vor? Was soll ich tun?
Er entschied sich dazu zu warten und schlich zu einem der gekippten Fenster hinüber.
„Danke für den Tee.“, kommentierte der Soldat die Rückkehr von Frau Kirn. „Nun haben wir alles da für eine entspannte Gesprächsatmosphäre. Also.“, er beugte sich vor und deutete auf den Stuhl ihm gegenüber. Sie sollte sich setzen. „Wo ist er?“
„Ich sagte doch schon, dass ich es nicht weiß.“
„Ich glaube dir aber nicht, Mütterchen.“, fiel er ihr ins Wort. „Du sagst mir, wo er ist und ich gehe. Einfach so. Niemandem geschieht irgendwas.“
Sie wusste, dass er log. Er wusste, dass er log und auch Johann wusste, dass er log. Man musste ihm nur ins Gesicht sehen und sah in eine unehrenhafte Fratze der Gemeinheit.
Johann ging um die Ecke, schnappte sich einen Stein, ging zurück zu seinem Ausgangspunkt und schmetterte ihn mit voller Wucht in Richtung Gartentüre. Das Fenster brach augenblicklich in tausend Teile. Johann zog sich sofort zurück und hörte, wie drinnen die Stühle nach hinten gerückt wurden. Schwere Schritte entfernten sich von Johann und Frau Kirn. Er hörte, wie die Stiefel auf dem zerbrochenen Glas zum Stehen kamen. Die Splitter knirschten und ächzten unter dem Gewicht. Die Tür ging auf und der Soldat betrat den Garten. Johann versteckte sich im Gebüsch. Der Soldat witterte, wie es Raubtiere tun, und sah sich um. Er ging einige Schritte aus dem Haus hinaus und spähte um die Ecke. In diesem Moment warf Johann den nächsten Stein. Er ging neben dem Soldaten ins Gebüsch und Johann fluchte. Er schmiss noch einen und dieses Mal klappte es. Er traf ihn am Kopf und der Mann taumelte. Er hatte keine Kraft mehr sich an die Stirn zu fassen und fiel auf den Rücken und blieb liegen. Johann schoss aus dem Gebüsch hinaus und rannte ins Haus. Frau Kirn stand am Fenster, sie hatte die Ereignisse offenbar beobachtet. Sie war kreidebleich.
„Frau Kirn.“, rief Johann, doch sie reagierte nicht.
„Johann...“, begann sie und sah wieder aus dem Fenster.
„Kommen Sie. Sie müssen gehen.“
„Ja...Ja, ich weiß.“, stammelte sie und suchte sich im Haus ein paar Dinge zusammen. Johann wusste nicht was. Es interessierte ihn auch nicht. Immer wieder schaute er ängstlich in den Garten und erwartete jeden Moment, dass der getroffene Soldat vor ihm auftauchte. Endlich kam sie zurück. Gemeinsam gingen sie in aller Ruhe zur Haustür hinaus. Sie musste Ruhe ausstrahlen, als sei alles ganz normal. Im Gehen sprach Johann sie an. „Was ist geschehen? Was wollte er?“
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