»Sie habe ich hier nicht erwartet«, sagte Golaz und wischte sich weiter die Hände am Tuch ab.
Manz schob mit einer raschen Bewegung den Riegel der Werkstatttür vor. Dann packte er Golaz auch schon am Kragen und stieß ihn unter den aufgehängten Fahrrädern durch an die Wand. »Was hast du in meiner Wohnung gesucht?«, zischte er, Gesicht an Gesicht mit Golaz. Mit der freien Hand griff Manz sich einen Schraubenzieher.
»Was ist mit ihrer Wohnung?«, fragte Golaz, der sich nicht wehrten konnte, denn Manz entwickelte in seiner Wut eine Kraft, die er diesem nicht zugetraut hätte.
»Sprich!« Manz drückte Golaz das scharfe Vorderteil des Schraubenziehers gegen den Hals. »Was hast du in meiner Wohnung gesucht?«
»Ich war nicht dort«, log Golaz.
»Jemand hat dich gesehen!« Manz versprühte Speichel und hatte einen Mundgeruch, der nach Mottenkugeln stank.
»Jetzt hör mir mal gut zu«, fuhr er fort, und seine Stimme wurde sehr leise. »Golaz, du bist ein Mistkerl, ein Versager, zu nichts zu gebrauchen. Du hast keine Chance, verstanden. Ich kann dich fertigmachen, restlos fertigmachen. Halt also deine verdammte Schnauze, sonst landest du im Gefängnis.«
»Was wollen Sie von mir?«, fragte Golaz, den die Druckstelle des Schraubenziehers zu schmerzen anfing.
»Du warst in meiner Wohnung und hast alle meine Sachen auseinander gerissen. Aber du wirst alles bezahlen, sonst lass ich deinen Laden hier in die Luft fliegen. Und du wirst schweigen! Wir haben uns nie gekannt. Vergiss das nie, sonst fliegst du mit in die Luft!«
»Ja, ist schon gut», murmelte Golaz.
Manz Augen funkelte stechend durch die Brille. »Du kannst es dir aussuchen, als was du enden willst: Landesverräter, Nazi, Mörder. Los, such dir was aus! Keine Chance hast du! Ich habe dich in der Hand! Was ich über dich erzähle, wird man glauben. Hast keinerlei Beweise gegen mich.«
»Herr Manz, lassen sie mich los«, bat Golaz, denn die Schraubenzieherspitze drang schon unter die Haut.
»Was hast du bei mir gesucht?«, brüllte Manz mit schriller Stimme. »Wenn du nicht sprichst, machen wir dich fertig.
»Wer ist wir?« fragte Golaz.
»Du wirst nie erfahren, wer wir sind. Scheißkerle wie dich leben bei uns nicht lange! Also raus mit der Wahrheit!«
»Ich habe doch nur ein wenig Geld gesucht, oder Schmuck, nicht viel, Herr Manz, nur damit ich die Miete bezahlen kann, mein Geschäft hier läuft so schlecht.«
»Nein!« brüllte Manz. »Du arbeitest für jemanden.«
»Nur für Sie, ich arbeite nur für Sie.«
«Du ekelst mich an», sagte Manz und ließ von Golaz ab. Gebückt trat unter den Fahrrädern durch, drehte sich um und sagte wutkeuchend: »Ich hätte es von Anfang an wissen müssen, dass du zu nichts taugst. Mit einem Krüppel sollte man sich nie einlassen!«
Manz schlug die Werkstatttür so heftig hinter sich zu, dass die Scheiben zitterten.
Am Nachmittag versuchte Golaz erneut, Krüger anzurufen. Da sich bei ihm zuhause niemand meldete, ließ er sich mit der Schuhfabrik verbinden.
»Direktor Krüger«, verlangte Golaz. »Wenn darf ich melden?«
»Sagen Sie Direktor Krüger, ein Freund von Stämpfli will ihn sprechen«, sagte Golaz.
In der Leitung knackte es. Stille. Dann wieder die Frauenstimme: »Kann Sie Herr Direktor Krüger irgendwo erreichen?«
Darauf fiel er nicht herein! »Nein«, sagte Golaz. »Ich will ihn jetzt sprechen!«
Klar, Krüger hatte Angst. Golaz wusste das genau. Er würde mit ihm sprechen, mit ihm sprechen müssen. Zuviel stand für den Herrn Direktor auf dem Spiel! Und da war seine Stimme auch schon!
»Was wollen Sie schon wieder?« fragte Krüger. »Muss ich wirklich zuerst die Polizei einschalten, damit Sie mich in Ruhe lassen!«
»Das Geld, Krüger«, sagte Golaz nur, und er fand, dass seine Stimme ganz ruhig klang. »Ein deutscher Spion wie Sie hat von unserer Polizei nämlich nichts zu erwarten!«
Stille.
»Sind Sie noch da, Krüger? Eine halbe Million US-Dollars haben Sie abkassiert. Ich will das ganze Geld. Es folgen ja noch weitere Lieferungen, an denen Sie sich bedienen können.«
»Können wir uns irgendwo treffen?«, fragte Krüger.
»Ich will nur das Geld!«, betonte Golaz.
»Rufen Sie mich morgen um zehn Uhr hier in der Fabrik wieder an«, sagte Krüger und legte einfach auf.
Kapitel 5
Wo und wie sollte die Übergabe des Geldes stattfinden? Überhaupt – war es geschickt, eine solche Summe in US-Dollars anzunehmen? Warum verlangte Golaz nicht, dass Krüger das Geld in Schweizerfranken umtauschte? Als Geschäftsmann würde ihm das bestimmt nicht schwer fallen. Golaz musste bei der ganzen Aktion einfach anonym bleiben. Allerdings komplizierte das einiges, vor allem die Übergabe des Geldes. Warum traf er sich nicht mit Krüger, nahm das Geld entgegen und brachte ihn anschließend um? Nein, denn aus Krüger war mehr herauszuholen. Golaz hatte ihn in der Hand, konnte ihn jederzeit verraten. Aussaugen wollte er ihn, restlos aussaugen! Soweit Golaz Krüger und den anderen Deutschen verstanden hatte, waren sie zwar für die Naziabwehr tätig, planten heimlich aber Hitlers Sturz. Garantiert standen noch weitere Verschwörer hinter ihnen. Aber die hatten Golaz nicht zu interessieren. Er musste Krüger bloß dazu zwingen, noch weitere Gelder aus Berlin anzufordern. Golaz verfügte schließlich über den nötigen Stoff, um den Mann voranzutreiben.
Und Manz? Wie gefährlich war Manz? Ließ er Golaz überwachen? Wer steckte hinter Manz? Der geheime Nachrichtendienst der Schweiz? Zumindest hatte Manz früher schon mal eine Andeutung in diese Richtung gemacht. Golaz musste vorsichtig sein. Sich mit Manz richtig zu befassen, ihn sogar mit Gewalt auszuquetschen, hielt er allerdings für wenig sinnvoll.
In seiner Wohnung räumte Golaz selten auf. Alles lag durcheinander, schmutzige Kleider häuften sich, stanken dumpf vor sich hin. In der Küche war der faulige Geruch kaum zum Aushalten. Golaz, der nie ein Fenster öffnete, störte das nicht. Schon in seiner Kindheit hatte er so gelebt, die meiste Zeit allein mit seiner Mutter in einem Zimmer. Es mangelte an allem. Die Mutter trug monatelang denselben Schlafrock, mit ihrem bleichem Gesicht und dem ungewaschenen, struppigem Haar. Nur selten verließ sie das Zimmer. Damit sie nicht auf die ein Stockwerk tiefer liegende Toilette gehen musste, benutzte sie einen Nachttopf, den sie jeweils so lange brauchte, bis er randvoll war. Ab und zu kam ein Mann vorbei, der ebenfalls stank, meistens nach Alkohol. »Ich kann nicht, wenn der Scheißtopf da steht!«, rief dieser Mann meistens, wie er in seiner vergilbten Unterhose vor dem Bett stand. Und zu Golaz: »Los, Kleiner, verschwinde mit dem Pisspott und komm erst in einer Stunde wieder!« Golaz musste den bis obenhin gefüllten Nachttopf mit seinen Kinderhänden – die allerdings schon zu groß für sein Alter waren – aufheben, wozu er all seine Kraft brauchte. Und einmal hatten seine Hände das schwere Ding nicht mehr zu halten vermocht und fallen gelassen. Der Mann geriet außer sich, die Mutter hingegen verkroch sich ins Bett und wollte von allem nichts wissen. Golaz rannte aus dem Zimmer und wagte sich die halbe Nacht nicht nach Hause. Als er älter wurde, zogen sie in eine kleine Wohnung um. Auch dort brach wieder dieselbe Unordnung aus. Golaz Kleider waren in einem entsprechenden Zustand, was ihm in der Schule zusätzlichen Spott einbrachte. Aber von einem mit Klumpfuß konnte man ja nichts anderes erwarten!
Golaz setzte sich an den Küchentisch, schob einen gebrauchten Teller mit Senfresten zur Seite. Mit den Fingern spielte er an einem trüben Glas herum.
Schön, dass es Leute wie Krüger gab! Verstand er die Spielregeln, die Golaz ihm jetzt diktierte, auch wirklich? Und Krüger hatte nicht davor zurückgeschreckt. Stämpfli zu erschießen. Das musste Golaz berücksichtigen. Krüger war nicht ungefährlich.
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