Kapitel 2
Am nächsten Morgen öffnete Golaz pünktlich um halb acht Uhr sein Fahrradgeschäft. Neben der Werkstatt, die in einem Hinterhof lag, hatte er vorne an der Straße noch einen kleinen Laden, beides durch einen schmalen Flur verbunden. Seine Wohnung – zwei dürftige Zimmer und eine kleine Küche – befand sich über dem Laden im ersten Stock. In der wenig geräumigen Werkstatt herrschte ein ziemliches Durcheinander. An einem von Wand zu Wand gespanntem Seil hingen alten Fahrräder, die er wegen Platzmangel in die Höhe gezogen hatte. Der Hausmeister, dem die ganze Liegenschaft auch gehörte, verbot Golaz nämlich, die Räder im Hof abzustellen. Das lag sicher daran, dass es darunter mehr Schrott als brauchbares Zeug gab. Die Konkurrenz im Ort war einfach groß, das redete sich Golaz jedenfalls ein. Dazu kam, dass die Leute hier ihn nicht besonders mochten. Aus Genf kommend, war er für manche doch schon ein halber Ausländer. Und sie durchschauten ihn nicht, weil er unverheiratet für sich lebte und nicht in den Wirtshäusern anzutreffen war.
Um neun Uhr betrat eine Person den Laden, die er erwartete. Er kannte sie zwar nicht, hatte nicht einmal gewusst, ob es sich dabei um eine Frau oder um einen Mann handelte. Es war eine Frau, die einen grauen Wollmantel trug. Sie trat selbstsicher ein, schaute sich um, warf einen Blick durchs Schaufenster und wandte sich dann Golaz zu. »Eine Tube Gummilösung«, verlangte sie. »Mit Quittung und genauem Datum.«
Das waren die Stichworte, alle drei: Gummilösung, Quittung, Datum . Golaz holte eine Tube vom Regal und händigte sie der Frau aus. Dabei vermied er es, sie anzuschauen. Auf einer Ablage, die als Schreibunterlage an der Wand angebracht war, stellte er eine Quittung aus. Anstelle des Datums schrieb er die Uhrzeit hin, zu der gestern Nacht einer der beiden Deutschen das von ihm observierte Haus verlassen hatte. Sehr wenig Information, dacht er sich, doch er wusste ja viel, viel mehr! Die Frau zahlte die Gummilösung, steckte die Quittung ein
und verließ den Laden. Golaz trennte das Doppel vom Quittungsblock und schob es in die Tasche seiner Arbeitsschürze. Er musste es später unbedingt verbrennen.
Im Hof begegnete er dem Hausmeister, der ihn gleich auf die fällige Miete ansprach. Golaz versuchte sich zu rechtfertigen, versprach dann, das Geld aufzutreiben.
»Es gibt eine Menge Leute, die nur darauf warten, die Räumlichkeiten hier, insbesondere den Laden, zu mieten«, drohte der Hausmeister und zündete sich eine Zigarette an.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Golaz nochmals, »aber die Zeiten sind einfach schlecht. Die meisten Männer stehen an der Grenze und – «
»Wir leben hier an der Grenze«, unterbrach ihn der Hausmeister, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. »Damit müssen Sie mir also nicht kommen! Überhaupt, ihre Schwierigkeiten gehen mich nichts an. Wenn Sie es nicht verstehen, ein Geschäft zu führen, so ist das ihr Problem. Aber nicht auf meine Kosten, verstanden, nicht auf meine Kosten!«
Es war nicht das erste Mal, dass Golaz die Miete nicht pünktlich zahlte. Eigentlich geschah das regelmäßig, seit Jahren, und bisher hatte ihn der Hausmeister nicht rausgeworfen. Diesmal klangen die Drohungen aber massiver als sonst. Golaz musste aufpassen.
Der Hausmeister schritt davon. Golaz blickte ihm kurz nach und betrat dann die Werkstatt. Draußen wurde es täglich kälter, der Winter nahte. Nichts funktionierte in diesem Haushalt richtig. Schlechte Öfen, zu wenig Kohle, überall zog der Wind durch, selbst in der Wohnung. Golaz setzte sich auf eine Holzkiste und stützte den Kopf auf beiden Händen ab. Zwei Fahrräder hatte er heute zu reparieren. Vielleicht kam noch etwas dazu, ein, zwei Kunden im Laden. Alles Kleinigkeiten, die er in zwei Stunden erledigen könnte. Aber er blieb sitzen und dachte nach. Er hatte nun doch ein großes Ding an der Angel, ein verdammt großes Ding! Wenn er damit durchkam, war alles gewonnen, dann konnten sie ihn alle mal! Er würde nicht auffallen und plötzlich verschwunden sein. Keine Nacht und Nebelaktionen mehr, bei denen er sich für ein Trinkgeld die Knochen abfror. Es konnte nichts schief gehen. Es kam einzig auf die richtige Planung an. Und auf den Mut, die Sache durchzuführen. Nur widerwillig erhob sich Golaz, stellte eines der Räder auf das erhöhte Brett, wo er jeweils die Reparaturen ausführte, und begann zu arbeiten.
»Sie?«, sagte der Mann in der Tür und griff sich an die Nickelbrille. Und gleich in einen gereizten Ton fallend: »Sie wissen doch, dass Sie nicht herkommen sollen!«
»Ich muss mit ihnen reden«, sagte Golaz.
Der Mann mit der Nickelbrille schaute an ihm vorbei zur Wohnungstür, die gegenüber auf derselben Etage lag. »Kommen Sie schon rein«, forderte er Golaz dann auf. »Wir müssen das ja nicht im Flur draußen besprechen.«
Golaz betrat die Wohnung. Der Mann mit der Nickelbrille verriegelte die Tür. Er trug einen kimonoartigen Seidenmantel, und sein streng nach hinten gekämmtes Haar glänzte, als wäre es nass. In der Wohnung schwebte ein süßlicher Duft. Im Raum nebenan brannte gedämpftes Licht.
»Sie sind ein Idiot«, sagte der Mann und musterte Golaz scharf. »Kommen einfach her. Das ist schlecht. Hat Sie wenigstens niemand gesehen?«
»Hören Sie, Herr Manz!« Golaz sprach mit gedämpfter Stimme. »Ich weiß schon, was ich tue.«
»Hoffen wir's«, erwiderte Manz leicht spöttisch und schritt in den Raum nebenan. Dort setzte er sich in einen Sessel, der ihn fast verschluckte. Golaz folgte ihm bis zur Tür und blieb in seinem Ledermantel steif stehen.
»Und?«, fragte Manz aus dem Sessel heraus. »Was wollen Sie?«
»Andere Aufträge«, antwortete Golaz.
»Darüber habe ich nicht zu entscheiden.« Manz zündete sich eine Zigarette an, die er elegant zwischen den Fingern hielt. Dabei hatte er für seinen unerwünschten Gast keinen Blick übrig.
»Für wen arbeite ich eigentlich?«, fragte Golaz.
»Das wissen Sie doch«, kam unfreundlich die Antwort.
»Ich will es konkret wissen«, verlangte Golaz.
»So läuft es nicht«, erwiderte Manz gereizt. »Das Wasser fließt von oben nach unten und niemals zurück. Selbst wenn ich ihnen mehr sagen wollte, könnte ich es nicht. Wir tun nur alle unsere Pflicht. Daher bitte ich Sie, nun zu verschwinden und in Zukunft die Vorschriften einzuhalten.«
»Der Überwachungsauftrag gestern«, fing Golaz an, doch der Mann im Sessel fiel ihm ins Wort und sagte ohne Aufregung: »Was reden Sie da für einen Unsinn! Sie hatten nie einen Überwachungsauftrag. Also kümmern Sie sich nicht um Dinge, die sie nichts angehen!«
»Ich möchte mehr tun können, Herr Manz. Dazu bin ich fähig.«
»Spielen Sie nicht den Helden, Golaz! Das liegt ihnen nicht. Wir müssen, gerade in diesen Zeiten, alle auf dem Boden der Realitäten bleiben. Tun Sie, was von ihnen verlangt wird. Und den Rest überlassen Sie Leuten, die davon auch etwas verstehen!«
»Und wenn ich Informationen hätte, die für die Schweiz nützlich sein könnten.«
»Hören Sie, Golaz!« Nun richtete sich Manz im Sessel auf und schaute seinen Gast an. »Es ist gut, wenn Sie Augen und Ohren offen halten. Und was Sie wissen, haben Sie zu melden. Keine Extratouren, nichts, sonst fliegen Sie raus. Was wir brauchen, sind pflichtbewusste Bürger und keine Spinner, die sich als Helden aufspielen wollen. Nur so kann ein Land wie die Schweiz überleben. Unsere Männer stehen Tag und Nacht an der Grenze. Auf sie ist Verlass. Nehmen Sie sich also ein Beispiel daran! Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«
»Sie könnten es wenigstens mit mir versuchen.« Golaz gab nicht auf. »Vertrauen Sie mir irgendeine Sache an, bei der ich mein Können unter Beweis stellen kann.«
»Das liegt nicht in meiner Macht«, antwortete Manz unbeteiligt.
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