Warum versuchte er nicht, ins Haus zu gelangen? Das entsprach zwar nicht seinem Auftrag. Doch wieso sollte er stundenlang im Regen stehen und auf etwas warten, das möglicherweise gar nicht passierte.
Golaz bog um die Hausecke und entdeckte die freistehende Garage, zu der von vorne die Einfahrtsstraße führte. Er schlich sich näher heran. Auf dem Vorplatz stand kein Wagen. In der Seitenwand der Garage ertastete Golaz eine kleine, vergitterte Öffnung, die als Lüftung diente. Er bückte sich, und hob einen leichten Kieselstein auf. Nachdem er sich nochmals vergewissert hatte, dass alles um ihn herum still war, warf er den Stein zwischen dem engmaschigen Gitter ins Innere der Garage, wo er gegen Blech traf, das ganz nach der Karosserie eines Autos klang. Genau das hatte Golaz wissen wollen. Es befand sich also ein Wagen in der Garage.
Nachdem er sich wieder dem Haus zugewandt hatte, drückte er mit der Hand gegen eines der Kellerfenster, zuerst schwach, dann stärker. Es gab etwas nach, ließ sich aber nicht öffnen. Vielleicht sollte er versuchen, es mit den Schuhen aufzustemmen. Auf jeden Fall würde das weniger Lärm als das Einschlagen der Scheibe machen. Golaz holte aber sein Taschenmesser hervor und schob die stabile Klinge zwischen die Rahmen der beiden Flügel, wo er das Schloss vermutete. Zu seiner Überraschung schnappte das Fenster auf, die Flügel klappten seitlich weg. Golaz schaute hinter sich, wartete einige Sekunden, steckte dann den Kopf durchs Fenster und horchte. Stille, und das offenbar im ganzen Haus. Also stieg er ein.
Der Raum roch nach Waschküche, Golaz schloss das Fenster hinter sich zu. Er hatte Streichhölzer bei sich, in der Brusttasche seines Hemdes, unter Ledermantel und Wollpullover, also bestimmt trocken. Aber er zündete keines an. Ohne große Mühe fand er die Tür, drückte die Klinke. Sie war unverschlossen.
Sollte er wirklich weitergehen? Das gehörte längst nicht mehr zu seinem Auftrag. Er könnte Schwierigkeiten bekommen. Nein, das interessierte ihn nicht. Was er jetzt tat, gehörte zu seiner Mission. Er war entschlossen, die Sache nun selber in die Hand zu nehmen. Hier bot sich ihm eine Chance, die er ergreifen musste. Vielleicht hätte er sich vorher darüber informieren sollen, wer hier wohnte. Doch das hatte ja nicht zum Auftrag gehört.
Einzig die Uhrzeit aufzuschreiben, wann eine Person das Haus verlässt, und sonst ein bisschen den Wachhund spielen! Mehr wurde von ihm nicht erwartet. Merde! Dazu brauchte er doch nicht die halbe Nacht im Regen zu stehen. Jetzt nahm er die Dinge selber in die Hand. Und das gleich richtig.
Golaz zündete ein Streichholz an, um sich zu orientieren. Er befand sich dicht vor einer hölzernen Treppe, die nach oben führte. Vorsichtig setzte er den einen Schuh auf die erste Stufe und entlockte dieser damit ein leises Knarren. Als sein ganzes Gewicht folgte, ging ein unüberhörbares Ächzen durchs Holz. Er ließ sich davon nicht verunsichern und stieg die Treppe hoch.
Die nächste Tür war ebenfalls nicht verschlossen. Golaz schob sie etwas auf und zog sie gleich wieder zu, weil ihm Licht entgegen fiel. Die Tür verband die Kellertreppe mit dem Flur. Er richtete seine Pistole nach vorne, öffnete mit der anderen Hand die Tür wieder einen Spalt breit. Nichts war zu hören. Doch er wartete einige Sekunden ab, um dann plötzlich die Tür ganz aufzumachen und hinauszutreten.
Er war im Flur. Und er fixierte schon die nächste Treppe, die ins Obergeschoss führte. Mehrere geschlossene Türen kreisten ihn ein. Warum diese ihn nicht interessierten, wusste er nicht. Die Treppe zog ihn an. In der Mitte der Stufen lag ein Läufer, persischer Stil, mit dünnen Messingrohren der Unterlage angepasst. Trotzdem knarrte das Holz, wie Golaz mit leicht hinkendem Gang eine Etage höher stieg.
Er würde sofort schießen. Da räumte er sich keine Verzögerung ein, keine Sekunde, nichts. Einfach abdrücken. Die Gefahr war zu groß, um sich auf einen Kompromiss einzulassen. Golaz hatte zwar noch nie einen Menschen getötet. Das bedeutete für ihn aber nichts. Es war eben nie nötig gewesen, sonst hätte er es schon lange getan.
Da war eine Stimme. Da sprach jemand. Ein Mann. Undeutlich, weil nicht nah genug. Golaz blieb auf den letzten Stufen stehen. Im oberen Stockwerk brannte ebenfalls das Licht im Flur. Fünf Türen zählte Golaz, zwei davon halb offen. Er wusste sofort, von wo die Stimme kam. Keinesfalls durfte er sich selber eine Falle stellen. Der Rückweg musste offen bleiben. Schießen und dann fliehen, so sah für ihn der Notfall aus. Die Frage lautete also, ob sich im Parterre niemand aufhielt, der ihn während der Flucht behindern könnte? Sicher, er würde auch hier nicht zögern, seine Waffe abzufeuern. Die Vorstellung, im entscheidenden Moment noch unerwartet aufgehalten zu werden, behagte ihm trotzdem nicht.
Was sprach diese Stimme? Mit wem sprach sie?
Golaz löste sich aus seiner starren Pose und näherte sich der halb offenen Tür, hinter der Licht brannte. Der Fußboden knarrte einige Male schwach. Golaz drückte sich gegen die Wand, die Pistole auf den Türspalt gerichtet.
Nun konnte er jedes Wort verstehen. Die Stimme gehörte keinem Schweizer, sondern einem Deutschen.
»Das Risiko dürfen wir nicht unterschätzen«, sagte dieser, »aber es bleibt uns schlussendlich nichts anderes übrig, als diesen Weg zu gehen. Das Netz ist gespannt. Wir brauchen im Grunde nur noch die Beute einzuholen.«
»Wenn uns nichts durch die Maschen schlüpft«, sagte eine andere Stimme, die ebenfalls einem Deutschen gehörte.
Golaz atmete kaum und lauschte angestrengt.
»Was oder wer soll uns durch die Maschen schlüpfen?«, fragte der erste Deutsche. »Wer sich in unseren Kreisen für die Konspiration gegen Hitler entschlossen hat, steigt nicht mehr aus. Wesentliche Stellen sind von uns durchsetzt, wir haben einen entscheidenden Mann aus der Berliner Zentrale im Rücken, ohne den die geplante Transaktion undurchführbar wäre. Da schlüpft uns nichts und niemand durch die Maschen.«
»Und von Aesch?«, wurde gefragt.
»Der weiß ja nicht, was wirklich gespielt wird.«
»Liegt nicht gerade in dieser Tatsache ein Risiko?», fragte der zweite Deutsche.
»Von Aesch darf nicht wissen, was wir mit dem Geld wirklich vorhaben. Eine größere Sicherheit gibt es für uns nicht. Als ehrgeiziger Bankier ist er der ideale Partner für unser Vorhaben. Zudem arbeitet er ja ohnehin schon als Mittelsmann für die deutsche Abwehr und verschiebt in deren Auftrag Gelder ins Ausland.«
»Und wenn er Wind von unserem Plan bekommt, alarmiert er gleich Berlin.«
»Nein. Von Aesch ist ein eingefleischter Opportunist. Er wird sich hüten, unnötig Staub aufzuwirbeln, solange es ihm selber gut geht.«
»Hoffen wir, dass du Recht hast.«
»Die Sache ist bestens vorbereitet. Am nächsten Dienstag kommt die erste Lieferung, die wir bei Basel über die Grenze bringen.«
Golaz wäre am liebsten näher getreten, um einen Blick durch die halb offen stehende Tür zu werfen. Er wollte die beiden Männer sehen, hielt sich aber zurück.
»Außer uns beiden weiß nur noch Bosse und Reitzel von der Transaktion jenseits der Schweizergrenze», fuhr der eine Deutsche weiter. »Es war für Reitzel nicht leicht, Weidl, dem die geheimen Fonds unterstehen, zu überzeugen, dass wir Geld für einen Reservefond von zwei bis drei Millionen Dollars in der Schweiz anlegen wollen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, stimmte der andere zu und vergewisserte sich dann: »Am Dienstag ist es also endlich soweit?«
»Ja.. Das Geld wird per Kuriersack direkt zu von Aesch gebracht. In US-Dollars. Von Aesch wechselt dann natürlich in Gold, was am sichersten ist.«
»Und du allein kannst bei Bedarf eine entsprechende Summe – oder auch alles – abrufen?«
»Richtig, nur ich als Abwehrsonderführer habe einen Zugriff auf diesen geheimen Fond.«
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