"Nun erzähl mal!", ermunterte ich sie und hörte mir zunehmend fassungslos ihren Bericht an.
Als sie geendet hatte, nur einmal unterbrochen durch die Kellnerin, die die Bestellung aufnahm, schwiegen wir beide betroffen.
Ich sah, dass es ihr nicht gut ging und verzichtete auf meine sarkastischen Einwürfe. "Du meinst, man hat dich kidnappen wollen?"
"Was heißt wollen? Die hatten mich bereits am Wickel, und wenn der Nachbar nicht dazwischen gekommen wäre, wär ich wohl inzwischen in Polen oder unter der Erde!"
"Und du hast keine Ahnung wer und warum?", hakte ich nach.
"Ne, aber es sah ganz so aus, als wenn die auf mich gewartet hätten?"
"Wieso?"
"Na, der Wagen war genau gegenüber unserem Hauseingang gestanden und die Hintertür war bereits offen, als die mich gepackt hatten."
"Meinst du, es war was Sexuelles?", fragte ich.
"Weiß nicht, glaub ich eigentlich nicht, da könnten sie doch was Jüngeres nehmen und außerdem war es am hellichten Tag."
"Das genau finde ich auch ziemlich merkwürdig", grübelte ich. "Meinst du, es hat was mit dem Professor zu tun?"
"Wieso das denn?", entfuhr es ihr.
Ich zuckte mit den Schultern. "Weiß nicht, war nur so ein Gedanke!"
Wieder breitete sich Schweigen aus.
"Meinst du, es ist gefährlich, wenn ich nach Hause gehe?", fragte sie unsicher.
Ich grübelte nach und sah sie lange an. So hilflos wie sie schaute, weckte sie meinen Beschützerinstinkt, der sich jedoch gefährlich mit dem Gedanken vermischte, dass dies ein guter Vorwand sein könnte, sie zu mir nach Hause zu locken, um dort meinen Begehrlichkeiten nachzugeben. Möglicherweise hatten sich meine Gedanken im Lauftext auf meiner Stirn abgebildet oder ich hatte versehentlich zu lange auf ihren Pullover geschaut, unter dem sich die Rundungen ihrer sehr weiblichen Brüste nur allzu deutlich abzeichneten, jedenfalls errötete sie und schaute weg. Wir schwiegen beide und blickten in entgegengesetzte Richtungen. Das Lokal hatte sich inzwischen weitgehend gefüllt, so dass nun kaum mehr ein Tisch frei war. Trotz der Lautstärke, die durch das vielfache Gebrabbel der Anwesenden angeschwollen war, entging uns nicht der angetrunkene Drogi, der, kaum zur Tür hineingekommen, laut krakehlig die Anwesenden anzupöbeln begann, glücklicherweise jedoch nach kurzer Zeit die Kneipe wieder fluchend und schimpfend verließ. Der Geräuschpegel hatte sich darauf hin etwas gesenkt, einige der Gäste nahe der Tür schienen geschrumpft zu sein oder blickten hilfesuchend oder kopfschüttelnd zur Theke nach dem Wirt. Dieser schien jedoch zu beschäftigt zu sein, um den Zwischenfall überhaupt wahrzunehmen, und außerdem war der Störenfried ja auch schon wieder gegangen.
Nach einer kurzen Pause nahmen wir das Gespräch wieder auf.
"Weiß nicht!", antwortete ich, "auf jeden Fall wäre ich vorsichtig."
"Ich hab ehrlich gesagt ein bisschen Angst nach Hause zu gehen!", nahm Kristine den Faden wieder auf.
"Willst du zu mir kommen?", fragte ich zögernd.
Ein leichtes Rot schoss Kristine über die Wangen. "Ne, lass mal, ich geh besser zu meiner Mutter. Aber ich muss zurück, um nachzusehen. Ich hab ja keinen Schlüssel!"
"Ich fahr dich, dann sehen wir weiter!", warf ich schnell ein. Sie nickte, während ich der Kellnerin winkte. In diesem Augenblick betrat der schmuddelige, zahnlose Drogi wieder lärmend und pöbelnd das Lokal. Er stellte sich in den Eingang, schrie die Gäste nahe der Tür an und kippte fast vornüber auf deren Tisch. Das Gerede der übrigen Gäste verstummte und nahezu alle schauten hinüber, um den Fortgang der Ereignisse zu beobachten. Die zwei Frauen am betroffenen Tisch waren aufgesprungen, weil der Drogi beim Versuch sich wieder aufzurichten ein Glas mitriss, welches laut scheppernd zu Boden fiel. Manche in nächster Nähe Sitzende bemühten sich, so zu tun, als sähen sie nichts, so nach dem Motto, wenn ich nicht gucke, bin ich unsichtbar, andere schauten empört, wieder andere bewegten sich in Richtung Theke. Ich fühlte mich ärgerlich gestört im Gespräch und hin- und hergerissen, Stellung zu beziehen und fürchtete schon, das nächste Opfer werden zu können oder wenn die Situation weiter eskalierte, eingreifen zu müssen.
Plötzlich geschah etwas Merkwürdiges. Ich spürte, wie meine Aufmerksamkeit nachließ, so als sähe ich alles nur im Traum. Alles schien sich weit von mir wegzubewegen. Eine merkwürdige Ruhe breitete sich in mir aus. Gleichzeitig fühlte ich den Impuls, mich zu erheben. Es ging ganz leicht, einfach so. Ich spürte, wie meine Beine sich gewissermaßen von selbst und ohne jede Mühe streckten und mich vom Stuhl erhoben. Aus den Augenwinkeln machte ich eine seltsame Entdeckung. Auch Kristine hatte sich erhoben und nicht nur sie, alle anderen Gäste standen plötzlich auf und blickten den Drogi an. Eine merkwürdige Stille hatte sich im Raum ausgebreitet. Dem Drogi war
die Veränderung nicht entgangen. Er stierte schwankend in den Raum, als versuche er, die Situation mit seinem Resthirn zu ergründen. Er schnappte kurz nach Luft und schaute sich mit geröteten Augen vorsichtig um. Ich fühlte, wie sich mein Körper in Bewegung setzte, ganz ruhig, ohne jegliche Aufregung, ja eine große zufriedene innere Ruhe hatte von mir Besitz ergriffen. Ich bewegte mich langsam auf den Drogi zu. Auch Kristine schien nur ein Ziel im Auge zu haben, auf den Drogi zuzugehen. Und nicht nur sie, alle anderen hatten sich fast gleichzeitig in Bewegung gesetzt und anstatt ängstlicher, gestörter, verschüchterter Gäste sah sich der Drogi mit einer schweigenden Mauer langsam, aber unaufhaltsam auf ihn zuschreitender Menschen konfrontiert. Er rülpste, schwankte, schien nicht zu begreifen, was er sah, drehte sich dann aber mit einem gestammelten "Ach du Scheiße!", auf dem Absatz herum, um das Lokal fluchtartig zu verlassen. In dem Moment fiel der traumartige Zustand plötzlich von mir ab, um einem unendlichen Glücksgefühl Platz zu machen. Ich lächelte Kristine an, die mir ebenso zurücklächelte, was sie noch schöner wirken ließ. Einige Gäste in meiner Nähe lächelten mir ebenfalls zu, während wir uns wie selbstverständlich wieder mit dem Gefühl zu unseren Plätzen zurück begaben, etwas ganz Besonderes verstanden zu haben.
Es war lange recht still im Raum, bevor das allgemeine Gebrabbel wieder anstimmte.
"Was war denn das?", fragte Kristine mich erstaunt.
"Cool!", antwortete ich, dem sich langsam auflösenden Glücksgefühl nachspürend.
Der Zauber war verflogen, ich zahlte und beim Hinausgehen schien Kristine weniger Abstand von mir zu brauchen als beim Hineingehen. Irgendwas hatte sich ereignet, von dem ich nicht begriff, was es war.
Als die frische kühle Abendluft uns auf der Straße entgegenschlug, hatte ich ein Gefühl, als würde ich gerade eine großer Schar enger Freunde verlassen.
Doch mit jedem Schritt entfernte sich das Gefühl, wurde unwirklicher, unbedeutender, bis ich schließlich, als ich uns ein Taxi rief, schon gar nicht mehr daran dachte.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war es der erste deutliche Vorbote für die umwälzenden Ereignisse, die darauf hin folgten oder noch folgen werden.
Molly Melone
Hartmut hatte Kristine doch nur zur U-Bahn gebracht, nachdem sie bis spät am Abend Krankenscheine sortiert und Eintragungen überprüft hatten.
Es war nicht so, dass er sie nicht hätte nach Hause begleiten wollen, aber aus irgend einem Impuls heraus hatte sich Kristine plötzlich entschlossen, den Rückweg alleine zu wagen. Zwei Entführungen an einem Tag waren schließlich äußerst unwahrscheinlich. Und außerdem wollte sie Hartmut, der ja schließlich ihr neuer Arbeitgeber sein sollte, nicht allzu sehr mit ihrem chaotischen Privatleben belasten, schon deshalb, weil sie gar nicht wusste, was sie zuhause erwarten würde. Vielleicht war Timmy schon da, die Wohnung ein Chaos oder sie stand weiterhin vor verschlossener Tür. Ihre Mutter in Prenzlau hatte sie telefonisch schon kurz benachrichtigt, dass sie vielleicht heute noch kommen könnte. Die war Kummer gewöhnt und wunderte sich über nichts mehr, schon gar nicht über die Entgleisungen von Timmy und sie hatte es ja schon immer vorausgesehen, dass das nicht gut gehen konnte ohne Mann, so in dem Stil.
Читать дальше