»Guten Morgen mein Schatz. Hast du gut geschlafen?«, fragte Sven bestens gelaunt.
Liebend gerne hätte sie ihm eine runtergehauen, aber selbst dazu war sie zu erschöpft von der Schufterei bis in die frühen Morgenstunden. Sie sagte kein Wort und setzte sich an den gedeckten Tisch. Sven reichte ihr den Kaffee und hielt dabei ihre Hand fest.
»Pia, es tut mir leid, wie ich mich gestern verhalten habe. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist! Verzeihst du mir?«
»Ehrlich gesagt bin ich stinksauer auf dich. Es wäre nett gewesen, nicht die gesamte Arbeit mir zu überlassen. Ich kann mich kaum noch bewegen. Jeder einzelne Knochen tut mir weh! Ich plage mich hier ab, du legst dich hin und lässt Gott und guten Mann sein,« erwiderte Pia wütend.
»Wie gesagt, es tut mir leid. Ich mache es heute Abend wieder gut!«
»Das will ich hoffen!«, sagte Pia gedehnt und schwieg weiterhin beharrlich.
Einige Minuten später erhob sich Sven, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, schnappte den Aktenkoffer, seine schwarze Lederjacke und verließ kurz darauf das Haus, um zur Arbeit zu fahren.
Pia kleidete sich rasch an, denn sie erwartete jeden Moment die Handwerker.
Sie kamen pünktlich, wie versprochen zum vereinbarten Zeitpunkt. Sie sahen sich im Wohnzimmer um und waren zufrieden, mit dem, was Pia am Vortag an Vorarbeiten geleistet hatte. Jetzt konnten die Anstreicher ans Werk gehen und die Tapeten entfernen. Der Malermeister hatte zusätzlich noch zwei weitere Mitarbeiter mitgebracht, damit die Arbeiten zügiger voranschreiten. Am Abend, als Sven nach Hause kam, war das Wohnzimmer bereits frisch tapeziert und das Laminat verlegt. Staunend blieb er im Türrahmen stehen, äußerste sich aber nicht weiter dazu, was vielleicht auch besser war. Denn auf seine peinlichen und frechen Bemerkungen vom Vortag konnte sie gerne verzichten.
Kurz darauf zog Sven die verdutzte Pia an sich heran. Im nächsten Moment zauberte er einen riesigen Strauß Blumen mit roten Rosen hinter seinem Rücken hervor. »Ich hoffe, du nimmst meine Entschuldigung an!«, sagte er zerknirscht und sah sie reumütig an.
Pia war ein Mensch, der nicht lange nachtragend war. Sie gab ihm einen Kuss auf den Mund, nahm ihm lächelnd den Blumenstrauß ab und stellte ihn in eine Vase.
Sven hielt tatsächlich Wort und half ihr dabei, die Müllsäcke, die die Maler mit Tapetenresten hinterlassen hatten zu entsorgen.
Jetzt musste nur noch ein Wandschrank in der Schlafstube ausgeräumt werden. Auf den übrigen Wänden hatte Sven glücklicherweise keinerlei Schmutzflecken hinterlasse und deshalb konnten die Schränke dort belassen werden.
Pia reichte Sven die Handtücher, Badetücher und Unterwäsche, die er ohne aufzubegehren in den Kisten verstaute. Kurz darauf trug er sie in die Küche, da dort noch etwas Platz vorhanden war, um sie zu stapeln.
Anschließend ließen sich beide völlig erschöpft und hungrig am Küchentisch nieder, um das Abendbrot einzunehmen. Ausnahmsweise gab es diese Woche, solange sich die Handwerker in der Wohnung aufhielten, keine warmen Mahlzeiten zum Abendessen. Denn in dem Chaos war es Pia unmöglich zu kochen. Sie hatte am Mittag frische Brötchen vom Bäcker besorgt. Dazu gab es Frischwurstaufschnitt und verschiedene Sorten Käse.
Mit Heißhunger verschlangen sie die belegten Brötchen und tranken Pfefferminztee dazu.
Jetzt hatte Pia noch drei Tage die Handwerker im Haus, danach konnte sie mit dem Einräumen der Schränke beginnen.
Nach drei anstrengenden Tagen und Durcheinander in allen Räumen kehrten endlich wieder Ruhe und häusliche Ordnung in Pias Leben ein. Die Zimmer waren jetzt komplett renoviert und mit einem neuen Laminatboden versehen worden. Sie hatten sich für Laminat entschieden, da der Boden sich als sehr pflegeleicht und strapazierfähig erwies.
Ab sofort gehörten die Abende wieder ihr und Sven. Sie benutzten die Zeit, um zu kuscheln, sich zu lieben und Zukunftspläne zu schmieden. Es hätte nicht besser sein können. Sven war bereits seit über einen Monat trocken. Pia war irrsinnig stolz auf ihn und das sagte sie ihm auch tagtäglich. Sie hatte im Internet über Alkoholismus recherchiert und wusste jetzt, dass Sven es jeden Tag große Überwindungskraft kostete, um nicht erneut zum Alkohol zu greifen. Dazu gehörte ein eiserner Wille, denn im Alltag wurde er stets mit sozialen, psychischen und familiären Dingen konfrontiert, die er vorher durch den Alkoholkonsum »abgefedert« hatte. Für das Problem mit seinen Töchtern hatten sie beide derzeit noch keine Lösung parat. Das belastete Sven extrem und an manchen Tagen fiel er in ein tiefes schwarzes Loch, aus dem er so rasch nicht wieder herauskam. Die Stimmungsschwankungen von Sven waren von Tag zu Tag unterschiedlich. Vermutlich deswegen, weil er jeden Tag erneut den erbitterten Kampf gegen den Alkohol aufnehmen musste.
Am nächsten Abend kam Sven freudestrahlend nach Hause. Er wirbelte sie durch die Wohnung, gab ihr einen innigen Kuss und stellte sie wieder vorsichtig auf die Füße. Er war guter Dinge und sie freute sich, dass er so gut gelaunt war.
»Pia, du hast mir versprochen mich diese Woche zur Selbsthilfegruppe zu begleiten. Du weißt, dass ich großen Wert darauf lege, dass du mitgehst!«
»Ich komme gerne mit!«
Sven gab ihr einen Kuss. Er setzte sich an den reichlich gedeckten Abendbrottisch und langte herzhaft zu. Anschließend sahen sie sich gemeinsam, eng aneinander geschmiegt einen Thriller im Fernsehen an und genossen den Abend in vollen Zügen.
Am darauffolgenden Tag begleitete Pia Sven zur Gruppentherapie. Sie war sichtlich nervös, da sie keine Ahnung hatte, was sie dort erwarten würde. Sie wusste aus ihrer Internetrecherche, dass auch die Co-Abhängigkeit der Lebenspartner in die Therapie mit einbezogen wurde. Ihre Nervosität erwies sich jedoch als völlig unbegründet, denn sie wurde freundlich von den Teilnehmern begrüßt und herzlich in der Runde aufgenommen.
Rasch stellte Pia fest, dass alle Menschen die hier zusammengekommen waren, ähnliche Probleme hatten.
Einige Teilnehmer berichteten von ihrer Problematik, wie sie zum Trinken kamen, und zeigten individuelle Möglichkeiten auf, wie sie aus der Sucht herausgekommen waren. Letztendlich lief alles darauf hinaus, dass sich jeder in der Gruppe aufgefangen fühlte und sich alle Teilnehmer gegenseitig unterstützten, indem sie von ihrem Alltag und den Schwierigkeiten berichteten, um vom Alkohol fernzubleiben.
Die Erfahrungen der Gruppenteilnehmer waren wichtig, um für Sven Möglichkeiten zu finden mit der Alkoholproblematik im Alltagsleben umgehen zu können. Die Gruppenleiter leisten auch Soforthilfe, wenn ein Teilnehmer Rückfallerscheinungen hatte. Dann stand er ihm zu jeder Tages- und Nachtzeit für ein Gespräch zur Verfügung, um Schlimmeres abzuwenden.
Eine Selbsthilfegruppe ist mehr, als nur ein wöchentliches Treffen. Die Ziele sind aus der Verzweiflung herauszufinden, neuen Mut zu fassen und der Wunsch, sich selbst in der Begegnung mit anderen Menschen kennenzulernen sowie wichtige Informationen über die Sucht und sich zu sammeln. Bedeutungsvoll sind auch die Unterstützung und das Verständnis von Personen, die eine ähnliche Lebenssituation aus eigener Erfahrung her kennen als auch einen neuen Kreis von gleich gesinnten Freunden zu finden, um gemeinsame Aktivitäten zu planen und durchzuführen.
Der Gruppenleiter stellte Sven die Frage, warum es für ihn wichtig war, die Selbsthilfegruppe zu besuchen.
Pia war gespannt auf seine Antwort.
»Für mich ist der regelmäßige Gruppenbesuch unerlässlich, weil er mir hilft, am »Thema« zu bleiben, damit ich nicht leichtsinnig mit meinem Problem umgehe und mir jeden Tag wieder erneut ins Gedächtnis rufe, dass ich ein Alkoholiker bin. Ich fühle mich durch die Gruppe gestärkt und aufgefangen. Ich möchte mich bedanken, hier sein zu dürfen«, sagte Sven.
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