1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Pia war ratlos und verzweifelt, da sie keinerlei Erfahrung im Umgang mit alkoholisierten Menschen hatte. Eine innere Stimme warnte sie eindringlich davor, von Sven Abstand zu halten, wenn er volltrunken war. Er bekam jeden Satz, den sie zu ihm sagte sofort in den falschen Hals und er sah sie mit einem hasserfüllten Blick an, der Bände sprach. Das war dann ein Grund mehr für ihn, erneut mit dem Trinken anzufangen und sie zum Sündenbock zu machen. Aus Angst zog sie sich immer mehr von ihm zurück und versuchte ihm aus dem Weg zu gehen, um weitere unliebsame Konfrontationen zu vermeiden.
Pias Nächte waren ruhelos und Schlaf fand sie nur noch äußerst selten. Das hatte natürlich Auswirkungen. Am Arbeitsplatz konnte sie sich kaum noch konzentrieren, da ihr unentwegt vor Erschöpfung die Augen zufielen. Sie war dermaßen unruhig, weil sie sich fortwährend die Frage stellte, was Sven jetzt tat.
Zu Hause erwarteten sie ununterbrochen andere Probleme, die sie nicht mehr fähig war, aus eigener Kraft zu bewältigen. Sven benötigte dringend Hilfe. Er war auf dem besten Weg, ihr beider Leben an die Wand zu fahren.
Da sie Sven liebte, wollte sie mit ihm den Kampf gegen den Alkohol aufnehmen. Eine Trennung von Sven zog sie keinesfalls in Betracht, da sie Sven als liebenswerten Menschen kennen- und lieben gelernt hatte. Er war ein zärtlicher und einfühlsamer Liebhaber, der all ihre Wünsche erfüllte. Es war für sie unvorstellbar, dass sich seine guten Charaktereigenschaften zwischenzeitlich einfach in Luft aufgelöst haben sollten. Irgendwo tief in ihm schlummerten immer noch die positiven Eigenschaften, die nur wieder an die Oberfläche kommen mussten. Ihr war es ein Rätsel, wie ein Mensch sich in so kurzer Zeit dermaßen zu seinem Nachteil verändern konnte.
Pia nahm sich deshalb vor, alles Erdenkliche für Sven zu tun, damit er den Weg aus der Alkoholsucht herausfand. Sie hoffte, dass er bald wieder zu sich selbst fand und endlich von dem Teufelszeug loskommt. Wie folgenschwer diese Entscheidung sein würde, ihm zukünftig hilfreich zur Seite zu stehen, konnte Pia derzeit noch nicht ahnen.
Nach den Saufexzessen zeigte Sven sich stets reumütig und kam bei ihr förmlich angekrochen, um sie um Verzeihung zu bitten. Er schämte sich dann wegen des übermäßigen Alkoholkonsums und wie er sich Pia gegenüber verhalten hatte. Er fiel vor ihr auf die Knie und beteuerte ihr mit Tränen in den Augen, dass er in Zukunft alles dafür tun wird, um keinen Alkohol mehr zu konsumieren. Sven gestand ihr, dass ein Leben ohne sie unvorstellbar wäre und das er sie nicht verlieren wollte.
Anfangs nahm Pia ihm noch die Beteuerungen ab, aber kaum waren einige Tage vergangen, wurde Sven erneut fahrig, seine Hände zitterten und er bekam Schweißausbrüche. Er wanderte dann voller Unruhe getrieben durch die Wohnung, wie ein Tiger im Käfig. Wenig später hielt er es nicht mehr aus und ging. Dann war er für Stunden verschollen.
Pia sorgte sich entsetzlich um ihn. Wenn er nach seinen Streifzügen wieder auftauchte, hatte er stets für genügend Nachschub gesorgt. Mittlerweile schämte sich Pia vor den Nachbarn, denn sie befürchtete, dass Svens Zustand auch den anderen nicht verborgen blieb.
Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sein Hausarzt dahinterkam, was es in Wirklichkeit mit seinem Gesundheitszustand auf sich hatte. Sven schien offenbar über kolossales schauspielerisches Talent zu verfügen, um den Arzt dermaßen überzeugend gegenüberzutreten, dass er jedes Mal wieder mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach Hause zurückkehrte. Noch hatte er zehn Tage Gnadenfrist bis seine Krankmeldung auslief. Was dann?
Svens Arbeitgeber hatte schon mehrmals versucht ihn telefonisch zu erreichen, aber leider vergebens. Sven ließ sich stets verleugnen. Er war zu feige selbst mit seinem Chef zu sprechen und überließ das Pia. In der Firma fielen Terminarbeiten an, die keinen Aufschub duldeten, deshalb rechneten sie jeden Tag fest mit der Rückkehr von Sven. Pia war es leid, unaufhörlich für Sven lügen zu müssen.
Durch die häufigen Krankschreibungen und den ständigen Alkoholmissbrauch setzte Sven seine Arbeitsstelle aufs Spiel. Sie suchte verzweifelt nach einer Lösung, um Sven helfen zu können. Pia war total ahnungslos, wie sie ihn unterstützen konnte. Sie sah tatenlos mit an, wie er jeden Tag ein Stückchen mehr abrutschte und ihr entglitt. Pia gewann den Eindruck, dass er sich selbst aufgegeben hatte und er nur noch in den Tag hineinlebte, ohne sein Umfeld wahrzunehmen. Sein derzeitiger Tagesablauf - wenn man es so nennen darf - bestand überwiegend aus Saufen, Rauchen und Schlafen. Die Körperhygiene litt auch unter dem Alkoholproblem. Oftmals stank er zehn Meilen gegen den Wind nach Alkohol. Er war unrasiert, ungekämmt und vom Duschen hielt er auch nichts mehr. Ein äußerst besorgniserregender Zustand, der sehr zu wünschen übrig ließ.
Eine Woche später als sie erschöpft und vom Bürostress gezeichnet von der Arbeit nach Hause kam, stockte ihr der Atem im wahrsten Sinne des Wortes. Beim Betreten der Wohnung kam ihr ein beißender Geruch von Erbrochenem und Rotwein entgegen. Sie musste würgen von dem widerlichen und penetranten Gestank, der ihre empfindliche Nase traf. Als sie die Diele betrat, war sie wie vom Donner gerührt. Sie sah sich mit Entsetzen um. Das konnte nicht wahr sein. Im Korridor waren die Wände und der Teppichboden mit Kotze verunreinigt. Sie ging weiter ins Wohnzimmer. Hier bot sich ihr ein Bild des Grauens. Sven lag in seinem eigenen Erbrochenen auf dem Sofa und schlief. Auf dem Wohnzimmertisch standen Aschenbecher, die überquollen und mehrere leere Flaschen Rotwein und Wodka. Die Couch war total verunreinigt mit Spaghettiresten und Rotwein, die er erbrochen hatte. Dies setzte sich an den Tapeten und auf dem Teppichboden im Wohnzimmer fort. Die Spuren zogen sich durch die gesamte Wohnung. In der Küche herrschte ein regelrechtes Chaos. Er hatte versucht, sich etwas zum Mittagessen zuzubereiten. Auf dem Herd stand ein Topf mit Bolognesesoße, die bereits am Topfboden eingebrannt war und in einem Sieb auf der Spüle fand sie die Reste von Spaghetti. Den Schaden, den Sven in ihrer Wohnung verursacht hatte, war von beträchtlichem Ausmaß. Aus Erfahrung wusste sie, dass sich Rotweinflecken so gut wie gar nicht mehr aus den Polstermöbeln und den Teppichen entfernen ließen. Die Bolognesesoße an den Tapeten würde ebenfalls nie mehr entfernbar sein. Das hieß im Klartext, sie musste die komplette Wohnung renovieren lassen. Wutentbrannt rannte sie ins Wohnzimmer und schüttelte Sven so heftig an der Schulter, bis er wach wurde. Er sah zu ihr auf, mit einem total irren Blick, als hätte er jeglichen Bezug zur Realität verloren. Sein Atem roch widerlich nach Kotze. Angewiderte drehte sie den Kopf weg.
»Lass mich! Was willst du hier?«, fragte er mit hasserfüllter Stimme und schüttelte ihre Hand von seiner Schulter ab.
Ängstlich wich sie einen Schritt zurück, denn in Svens Augen funkelte es gefährlich.
»Ich fahre jetzt zu meiner Freundin und erwarte von dir, dass du die Wohnung bis morgen in Ordnung gebracht hast.«
»Da kannst du lange warten, du Schlange. Geh ruhig, dann kann ich wenigstens in Ruhe weiter saufen!«, sagte er lallend und vor Wut kochend. Der Speichel rann ihm seitlich aus den Mundwinkeln. Ein widerlicher Anblick. Sein Gesicht war vor Zorn gerötet und zu einer hässlichen Fratze entstellt. Er richtete sich mühsam auf dem Sofa auf und stützte sich auf dem Tisch ab, der gefährlich ins Kippen kam. Er griff nach ihr, was ihm aber nicht gelang. Angstvoll wich sie rückwärtsgehend ins Schlafzimmer zurück. Sie suchte blindlings einige Kleidungsstücke zusammen und warf sie in eine Reisetasche, die sie mit fahrigen Händen aus dem Kleiderschrank herausgezerrt hatte. Sven versuchte ihr, taumelnden Schrittes zu folgen. Er verfing sich mit dem Hausschuh am Bettvorleger und fiel der Länge nach auf das französische Bett. Dort blieb er regungslos liegen. Pia beugte sich besorgt über ihn, um festzustellen, dass er sich nicht ernsthaft verletzt hatte. Als sie mitbekam, dass seine Atemzüge regelmäßig waren, entfernte sie sich rasch aus dem Schlafzimmer.
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