»Das geht dich nichts an, das ist mein Leben!«, schrie Sven zornig.
»Da hast du vollkommen recht. Nur mit dem kleinen Unterschied, ich darf meine Kinder wieder regelmäßig sehen, weil ich es geschafft habe trocken zu bleiben. Es war ein langer Weg dorthin. Ich musste erst in der Gosse landen, um überhaupt zu begreifen, wie bitterernst meine damalige Lage war. Meine Ehe war im Eimer, der Führerschein weg, die Kinder durfte ich nicht mehr sehen und die Arbeit war ebenfalls futsch, aber das kennst du bestimmt schon alles.«
Erstaunt sah Sven Ernst an und wirkte nachdenklich.
»Wie, du hast auch gesoffen?«
»Wenn du es so formulieren willst, ja!«, konterte Ernst.
»Wie bist du da wieder herausgekommen?«, fragte Sven hellhörig geworden und eine Nuance ruhiger.
»Ich sagte dir doch bereits, dass ich erst in der Gosse landen musste, um überhaupt zu begreifen, wie schlimm meine damalige Lage war. Ich wäre vor die Hunde gegangen, wenn es nicht endlich »Klick« gemachte hätte in meinem Kopf. Ich bin jetzt seit fünfzehn Jahren trocken. Mit ein wenig Willenskraft kannst du das ebenfalls schaffen. Du möchtest doch bestimmt deine Kinder wiedersehen! Aber in dem Zustand, indem du dich zurzeit befindest, wird dir kein Gericht der Welt das Besuchsrecht, geschweige denn das Sorgerecht für deine Töchter einräumen. Im Moment stellst du eine Kindeswohlgefährdung dar. Als Elternteil würde ich dir mein Kind auch nicht anvertrauen. Wenn du bereit bist, an der Situation etwas zu ändern, kannst du gerne jederzeit bei mir vorbeikommen. Tür und Tor stehen dir Tag und Nacht offen. Voraussetzung dafür ist, dass du mindestens vier Wochen keinen Alkohol mehr trinkst! Überlege es dir!«, sagte Ernst im ruhigen und freundlichen Ton.
Ernst überreichte ihm die Visitenkarte. Pia begleitet ihn kurz darauf zur Wohnungstür und bedankte sich bei ihm für seine Bemühungen.
Als sie zurückkehrte, saß Sven nachdenklich auf dem Sofa. Pia schwieg und wartete auf eine Reaktion von Sven.
»Gut, ich mache einen Entzug, aber nicht im Krankenhaus, sondern hier bei dir, denn so kann es auf gar keinen Fall weitergehen!«, sagte Sven scheinbar von seinen Worten selbst überzeugt.
»Okay, wenn du glaubst, das ohne fremde Hilfe zu schaffen, dann mache es!«
Pia hatte keine Ahnung, auf was sie sich da einließ, woher auch ...
Sven verlangte von Pia alle alkoholischen Getränke bis Morgen außer Haus zu schaffen, damit er nicht erneut in Versuchung kam. Den Haustürschlüssel händigte er ihr ebenfalls aus und bat Pia darum, wenn sie die Wohnung verließ, ihn einzusperren. Er erklärte ihr, wenn er Entzugserscheinungen bekam, könnte ihn nichts und niemand davon abhalten, Nachschub zu besorgen. Er setzte sie auch darüber in Kenntnis, dass es ihm miserabel gehen würde während des Entzuges und sie sollte sich keinesfalls von ihm erweichen lassen, etwas Alkoholisches zu beschaffen. Pia erklärte sich einverstanden, obwohl sie keinen blassen Schimmer davon hatte, was sie in den nächsten fünf Tagen erwartete.
Sven war zum jetzigen Zeitpunkt schon fahrig und nervös, weil er bereits ahnte, was auf ihn zukam. Pia verschloss die Wohnungstür sorgfältig ab und nahm den Schlüssel an sich, damit Sven in der Nacht nicht in Versuchung kam, das Haus zu verlassen, um sich Nachschub zu holen. An Schlafen war kaum zu denken, denn während der Nacht nahm sie wahr, dass Sven unruhig durch die Wohnung lief und sie hörte, wie er mit den Fäusten mehrmals gegen die Wand schlug. Das konnte noch heiter werden, dachte sie und zog sich die Bettdecke über die Ohren. Das half herzlich wenig, denn einige Augenblicke später tobte er in der Küche und sie vernahm, wie er wütend die Kühlschranktür zuschlug. Während der Nacht setzte er seine unruhige Wanderung durch die Wohnung fort. Gegen Morgen fielen Pia die Augen vor Erschöpfung zu. Am Morgen riss sie der Wecker unsanft aus dem Schlaf. Rasch ging sie ins Bad, um sich frisch zu machen, kleidete sich an und sah kurz nach Sven, bevor sie zur Arbeit fuhr. Er saß wie ein Häufchen Elend auf der Couch und zitterte am ganzen Körper. Sven tat ihr leid, aber sie wusste nicht, was sie für ihn tun konnte. Sie nahm ihn in die Arme, doch er schob sie brüsk von sich fort.
»Fahre bitte zur Arbeit und lass mich am besten in Ruhe. Schließe hinter dir die Wohnungstür sorgfältig ab!«, sagte er energisch.
»Okay, aber ein gutes Gefühl habe ich bei der Sache nicht!«, erwiderte Pia zögerlich.
»Geh bitte! Es ist besser! Ich möchte auf keinen Fall, dass du mich in dem Zustand siehst!«
»Das ist leider nicht zu vermeiden, denn ich wohne hier!«
»Geh jetzt!«
»Dann bis heute Abend. Bleib tapfer und halte durch! Du schaffst das, davon bin ich felsenfest überzeugt!«, meinte Pia und küsste ihn zum Abschied auf die schweißnasse Stirn. Sie fühlte sich ganz heiß an. Besorgt verließ sie das Haus und fuhr mit einem unguten Gefühl in der Magengrube zu ihrem Arbeitsplatz.
Als sie nach Dienstschluss zurückkehrte, saß Sven im Wohnzimmer wie ein Häufchen Elend und krümmte sich vor Schmerzen.
»Was ist mit dir?«, fragte Pia bestürzt.
»Mir geht es beschissen!«
»Kann ich dir helfen?«
»Nein, lass mich in Frieden! Du kannst mir Zigaretten besorgen, sonst raste ich aus. Der Alkoholentzug ist schon schlimm genug!«, erwiderte er zornig.
»Ich gehe sofort in den Supermarkt. Wie viele Päckchen soll ich mitbringen?«
»Bring mir drei große Schachteln mit!«, sagte Sven und griff mit zitternden Händen zum Glas, das mit Mineralwasser gefüllt war.
»Ich komme sofort wieder! Bis gleich.«
Pia verließ im Laufschritt die Wohnung, vergaß aber nicht die Wohnungstür hinter sich abzuschließen. Sie hastete die Treppen hinunter, damit er nicht allzu lange auf die Zigaretten warten musste. In einem derartig desolaten Zustand hatte sie Sven noch nie zuvor gesehen. Sie überlegte, ob es richtig war zuzustimmen, den Entzug zu Hause durchzuführen. Sie nahm sich vor, im Internet zu recherchieren, sobald er schlief. Das durfte Sven unter keinen Umständen mitbekommen, sonst würde er stinksauer werden. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, die Entgiftung alleine und ohne ärztliche Hilfe durchzuziehen.
Nachdem sie die Zigaretten im gegenüberliegenden Discounter besorgt hatte, nahm sie gleich zwei Treppenstufen auf einmal, um Sven schnellstmöglich das Gewünschte zu bringen. Pia machte sich große Sorgen wegen des großen Zigarettenkonsums, aber was sollte sie tun? Sie konnte ihm unmöglich auch noch die Zigaretten wegnehmen.
Sie fand ihn würgend vor der Toilettenschüssel vor. Er stöhnte und krümmte sich unter starken Schmerzen.
Pia bekam es mit der Angst zu tun. Sven war leichenblass im Gesicht und der Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Seine Hände zitterten dermaßen, dass er sie kaum noch unter Kontrolle hatte.
»Soll ich nicht besser einen Arzt rufen?«, fragte Pia leise.
»Untersteh dich, der schafft mich sofort ins Krankenhaus. Dort bringen mich keine zehn Pferde hin. Ich schaffe das auch ohne Hilfe!«
Ratlos verließ sie das Badezimmer und ließ sich auf der Couch nieder, die immer noch feucht war, von Svens vergeblichem Versuch sie zu reinigen.
Noch nie im Leben hatte sie sich so hilflos gefühlt wie in diesem Moment. Sie gäbe etwas darum, Sven helfen zu können. Sie war den Tränen nahe und auch sie bemerkte, dass sie am ganzen Körper zitterte, aber das vor Aufregung. Nach einer Stunde kam Sven endlich aus dem Badezimmer, aber immer sehr blass um die Nase. Er sah entsetzlich aus. Seine Augen waren gerötet, das verschwitzte und strähnige Haar hing ihm wirr ins Gesicht und er roch nach Erbrochenem. Sein T-Shirt war komplett durchgeschwitzt.
Sie setzte sich zu ihm und reichte ihm ein Glas Mineralwasser, dass er mit zittrigen Händen entgegennahm. Kaum hatte er zwei Schlucke davon getrunken, wurde es ihm erneut übel und er verschwand im angrenzenden Badezimmer. Total ermattet kam er nach einiger Zeit wieder heraus und legte sich auf die Couch. Sie nahm eine Decke und breitete sie liebevoll über ihrem zitternden Freund aus. Wenige Minuten später war Sven eingeschlafen. Sie hoffte inständig, dass er nun etwas Ruhe fand. Sie schaltete den Fernsehapparat an und versuchte sich auf den Spielfilm zu konzentrieren, der im Augenblick dort lief. Dies funktionierte nicht, denn ihre Gedanken waren bei Sven. Von innerer Unruhe getrieben, ging sie in die Küche. Sie fuhr den Laptop hoch und recherchierte, was kalter Entzug zu bedeuten hatte.
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