1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Pia war den Tränen nahe. Sie nahm ihre Jacke, die sie an der Türklinke aufgehängt hatte, die Reisetasche sowie den Kosmetikkoffer und verließ mit hängenden Schultern ihre eigenen vier Wände. Auf der Straße schnappte sie erst einmal nach frischer Luft. Der Gestank in der Wohnung war nicht auszuhalten. Ihr war es immer noch speiübel von dem Geruch, den sie noch in der Nase hatte. Sie holte ihr Smartphone mit zitternden Händen aus der Handtasche und rief ihre Freundin Linda an und schilderte ihr, was vor wenigen Minuten bei ihr zu Hause vorgefallen war. Sie war entsetzt und bat Pia darum, sofort zu ihr zu kommen, bevor die Situation zu eskalieren drohte. Pia verstaute ihre Tasche und den Kosmetikkoffer im Kofferraum, stieg in ihr Fahrzeug und fuhr mit Tränen verschleierndem Blick zu ihrer Freundin, die bereits vor der Haustür ungeduldig auf sie wartete.
Linda nahm sie tröstend in die Arme und harrte geduldig aus, bis ihr Tränenstrom versiegt war. Pia schilderte ihr die komplette Geschichte noch einmal in Ruhe. Ihre Freundin schien äußert besorgt, da sie vermutete, dass Sven ein Alkoholproblem hatte. Sie riet ihr deshalb dringend, eine Beratungsstelle für Suchtkranke aufzusuchen. Pia war sofort einverstanden. Gemeinsam recherchierten sie im Internet nach einer Suchtberatungsstelle und wurden rasch fündig. Nicht unweit, etwa zwei Straßenecken von Pias Wohnung entfernt, befand sich eine solche Einrichtung. Spontan griff Pia nach dem Handy und wählte die Rufnummer, die sie auf der Webseite der Beratungsstelle gefunden hatte.
Nach zweimaligem Klingelton meldete sich eine männliche Stimme, die sehr vertrauenswürdig klang. Stockend berichtete sie dem Gesprächspartner, was sich vor einigen Stunden in ihrer Wohnung zugetragen hatte. Herr Schneider von der Suchtberatungsstelle erklärte sich bereit, nachdem er ihre Geschichte angehört hatte, sie zu unterstützen. Er schlug Pia vor, dass sie Morgen nach Dienstschluss zu ihm in die Beratungsstelle kommen sollte, um gemeinsam eine Lösung zu finden.
Erleichtert beendete sie das Telefongespräch. Jetzt hatte sie zumindest etwas Rückenstärkung. Linda sorgte sich am Abend rührend um Pia. Sie hatte das Gästezimmer für sie hergerichtet und ihr das Bett bereits frisch überzogen. Gegen Mitternacht verabschiedeten sich die beiden Freundinnen voneinander und legten sich zur Ruhe. In dieser Nacht fand Pia kaum Schlaf, weil sie fortwährend daran dachte, wie er ihre Wohnung zugerichtet hatte. Sie war stinksauer auf Sven.
Pia sah dem morgigen Tag nicht sehr optimistisch entgegen. Sie setzte all ihre Hoffnung auf Herrn Schneider und dessen Hilfe.
Als sie erwachte und ihre Freundin in der Küche aufsuchte, hatte diese bereits den Frühstückstisch liebevoll gedeckt, was Pia mit Freuden wahrnahm. Sie nahm am Tisch ihr gegenüber Platz. Linda stellte fest, dass Pia ausgesprochen blass um die Nase war und sich dunkle Schatten unter ihren Augen abzeichneten.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte ihre Freundin besorgt.
»Nein. Ich konnte einfach nicht abschalten, da ich laufend an Sven denken musste!«, sagte sie leise.
»Von Sven hatte ich in der Vergangenheit eigentlich einen positiven Eindruck. Er wirkte sehr gebildet, schüchtern und zurückhaltend auf mich!«, meinte ihre Freundin.
»Ich verstehe seine Verhaltensweise in der letzten Zeit genauso wenig! Aller Wahrscheinlichkeit nach hängt sein Benehmen mit dem Besuch bei seiner Mutter zusammen!«
»Das vermute ich auch, nachdem, was du mir erzählt hast. Scheinbar wurden dort wieder alte Wunden aufgerissen, die er noch nicht verarbeitet hatte«, sagte Linda.
Allmählich war Eile geboten, wenn Pia nicht zu spät am Arbeitsplatz erscheinen wollte. Sie bedankte sich nochmals bei ihrer Freundin und verabschiedete sich, nachdem sie ihr versprochen hatte, sich sofort bei ihr zu melden, wenn es Neuigkeiten oder erneuten Stress mit Sven geben sollte.
Auf ihre Arbeit im Büro konnte sie sich überhaupt nicht konzentrieren. Sie fieberte regelrecht dem Feierabend entgegen und erhoffte sich Hilfe von dem Suchtberater, der sehr vertrauenswürdig am Telefon herübergekommen war. Unkonzentriert und mit den Gedanken woanders steuerte sie ihr Fahrzeug durch den lebhaften Feierabendverkehr und war froh, als sie die Suchtberatungsstelle unversehrt erreicht hatte. Während der Fahrt dorthin wurde es ihr ganz flau im Magen, weil sie keine Ahnung hatte, was sie gleich erwarten würde.
Unsicher stand sie vor dem Haus und zweifelte daran, ob es der richtige Schritt war, um Sven zu helfen. Plötzlich öffnete sich die Haustür und ein schlanker großer Mann, etwa Mitte vierzig, mit schwarz gelocktem Haar, das ihm in die Stirn fiel, trat vor die Tür.
»Sie sind vermutlich Pia?«
»Ja, das ist richtig!«, stammelte sie verlegen. Jetzt konnte sie keinen Rückzieher mehr machen.
»Ich bin Ernst und der Betreuer der Gruppe. Wir duzen uns hier alle, das macht vieles einfacher. Ich hoffe, du hast nichts dagegen?«
»Nein, das ist in Ordnung!«, sagte Pia leise.
»Du hast mir bereits die Sachlage am Telefon ausführlich geschildert. Ich muss dir allerdings gleich sagen, dass ich deinen Freund nicht zwingen kann, die Beratungsstelle aufzusuchen. Das muss er selbst wollen und außerdem wird er nur in der Gruppe aufgenommen, wenn er einen Monat keinen Alkohol getrunken hat, also absolut trocken ist. Das sind die Regeln. Ich kann nur vermitteln und auf ihn positiv einwirken, dass es bei ihm »Klick« macht. Die Willenskraft nicht mehr zu trinken und etwas an der Situation zu ändern, muss er letztendlich von ihm selbst kommen.
»Okay, was jetzt?«, fragte Pia unsicher.
»Ich begleite dich, wie besprochen nach Hause und mache mir persönlich vor Ort ein Bild von der Lage, wenn du einverstanden bist!«, sagte Ernst.
»Ja«, erwiderte Pia leise. Sie schämte sich entsetzlich. Allein der Gedanke, dass er gleich die verkotzte Wohnung betreten würde, war ihr irrsinnig peinlich.
Gemeinsam fuhren sie zu Pia nach Hause. Dort angekommen wühlte sie nervös in der Handtasche herum, um die Wohnungsschlüssel zu finden. Ernst legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.
»Bleib ruhig! Soll ich aufschließen?«
Pia reichte ihn mit zitternden Händen den Schlüssel und trat zur Seite, damit er die Tür öffnen konnte.
Als er den Wohnungsschlüssel im Schloss herumdrehte und die Tür sich einen spaltbreit geöffnet hatte, wäre Pia am liebsten im Erdboden versunken. Was war hier während ihrer Abwesenheit geschehen?
Im Flur sah es aus, wie in einem Obdachlosenasyl. Der Teppichboden war komplett mit Zeitungspapier ausgelegt und das setzte sich in allen Räumen fort. Sven saß im Wohnzimmer mit einer Bürste in der Hand und versuchte die Couchgarnitur mit Teppichreiniger zu säubern. Er war dermaßen vertieft in seine Tätigkeit, dass er sie gar nicht kommen gehört hatte.
Ernst räusperte sich laut. Sven fiel vor Schreck die Bürste aus der Hand und schaute Pia und ihn erstaunt an.
»Wer ist das?«, fragte Sven entrüstet.
»Mein Name ist Ernst Schneider und ich bin von der Beratungsstelle für Alkoholiker zwei Straßenecken weiter! Deine Freundin hat mich um Hilfe gebeten.«
»Ich komme sehr gut alleine zurecht!«, erwiderte Sven zornig und pfefferte die Handbürste wütend gegen die Wand.
»Das sehe ich! Da hast du ja ganze Arbeit geleistet in der Wohnung. Wie soll deine Freundin das jemals wieder sauber bekommen?«
»Das ist mir doch egal!«, brüllte Sven erbost und sah ihn mit glasigen Augen an.
»Mir steht es nicht zu, dir etwas vorzuschreiben. Ich bin lediglich hier, um hilfreich zur Seite zu stehen, damit du dein Leben in den Griff bekommst. Deine Freundin hat mir berichtet, dass du seit einigen Wochen nicht mehr zur Arbeit gehst und sie vermutet, dass du einen Rückfall hattest und wieder regelmäßig trinkst.«
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