Über die Jahre hinweg hatte er sich daran gewöhnt, nicht mehr gebraucht zu werden - glaubte er. Es war ein wackeliger Glaube. Ein wenig wie das Ziehen in der Hüfte: wenn man es gerade nicht spürt, glaubt man es überwunden. Nicht gebraucht zu werden, war schon schlimm genug, noch schwieriger aber war es, sich nicht als Schmarotzer zu fühlen. Immer wieder musste er sich von neuem einreden:
- Ich will ja was tun, aber sie lassen mich nicht! Wenn der Staat mir keine Arbeit geben kann, muss er mir wenigstens zu essen geben - sonst muss ich betteln, oder gar stehlen.
Nur so war’s auszuhalten. Er hatte ausreichend zu essen, er hatte ein Dach über dem Kopf und er hatte ein warmes Bett. Brauchte einer mehr? Er nicht! Seine Genügsamkeit und sein jederzeit abrufbarer Arbeitswille bildeten einen Schutzwall, an dem er jeden Tag baute und flickte. So konnte er leben, ja sogar verhalten genießen: den Frühling, die Sonne, die klare Luft, den nach Schweißfüßen riechenden Raps. Noch ein kurzer, wehmütiger Blick hinüber zur Brauerei, dann bog er am Bültekreisel links ab und fuhr zurück in die Stadt. Nach Hause. Frühstücken. An der Bülte-Kreuzung stieg er brav vom Rad, weil er von vorne einen Streifenwagen kommen sah. Dort hatten sie ihn vergangenen Montag erst vom Rad geholt, die Brüder. Ausgerechnet der Warnecke und so ein junger Hilfssheriff, neu in der Stadt. Der hatte ihm unbedingt zeigen müssen, was er schon gelernt hatte:
- Was steht da, bitte?
Und Mahlmann hatte, wie ein Schuljunge, vorlesen müssen:
- R-Radfahrer a-abteigen! I-I-Ich kann lesen, Bolfgang, dag doch was!
Polizeihauptmeister Wolfgang Warnecke hatte nur vieldeutig das Gesicht verzogen, er ließ den Jungen gewähren. Mahlmann hatte noch nachgeschoben:
- W-War doch aber Grün. Und is doch w-weit und breit kein M-Mensch tu sehen, kein Auto, n-nix!
Da hatte der junge Polizist gesagt, man könne die Gesetze nicht nach Tageszeit oder Verkehrsaufkommen variabel auslegen, das führe geradewegs ins Chaos. Nein, man müsse - JEDER - müsse die bestehenden Vorschriften buchstabengetreu einhalten,
- ...verstehen Sie: buchstabengetreu!
Dabei hatte der junge Polizist genüsslich mit seinem Finger auf das Schild getippt.
- Die Dinger hängen nicht zum Spaß da! Heute will ich nochmal ein Auge zudrücken, das nächste Mal sind vierzig Euro fällig.
Der Staat gibt, der Staat nimmt.
- Ich zahle pünfzig, wenn Sie mir eine A-A-Arbeit geben.
Der junge Polizist hatte ihn verständnislos angeglotzt. Das alte Zuständigkeitsproblem: jeder ist der Staat, aber zuständig fühlt sich jeder nur für sich selbst.
Und nun sah Burkhardt Mahlmann eben jenen jungen Polizisten aus dem Auto winken, als wolle er ihm sagen: Bitte, geht doch! ‚Wichtigtuer‘, dachte Buck und lächelte betont freundlich zurück. Dabei machte er einen kleinen Schlenker mit dem Rad, der Blick zur Seite und ein gleichzeitiger Stich in der Hüfte verleiteten ihn dazu. Es machte den Eindruck, er sei betrunken. Doch Mahlmann hatte sich schnell wieder im Griff. Am anderen Ende der Kreuzung, wo der Radweg aus Allersheim auf den aus der Liebigstraße stieß, stieg er wieder auf sein Rad und fuhr erwartungsfroh auf sein Frühstück zu. Nun, da der Streifenwagen weg, und sein Respekt vor dem forschen jungen Beamten verflogen war, dachte Mahlmann: ‚Heute hätten sie anhalten müssen, da konnte ich Wolfgang gleich den Tipp geben.‘
Mindestens drei Anregungen Mahlmanns hatte der Hobbymaler Wolfgang Warnecke schon verwertet und auch andere nahmen seine Hinweise dankbar an. Etliche Bilder hatten ihre Existenz nur Bucks geübtem Auge zu verdanken. Also durfte er sich dem Kunstkreis Holzminden durchaus ein wenig zugehörig fühlen.
Am Tag der Arbeit öffnete das Back-Drive-In etwas später als gewöhnlich. Keine eiligen Arbeiter, keine gehetzten Paketzusteller heute, die ihre Frühstückstüte holten, nur einige Frühaufsteher: Hundebesitzer, Jogger, Schlaflose, Genießer, die sich am Feiertag gerne was Frisches gönnten. Das Back-Drive-In war ein Shop der Bäckerei Klingspor, daher das Back- im Namen. Der Laden hatte nach amerikanischem Vorbild ein Fenster, überdacht, an dem man aus dem Auto heraus kaufen konnte. Ein Drive-In also. Buck hatte noch nicht einen Menschen aus dem Auto heraus kaufen sehen, nicht alle amerikanischen Ideen fallen hier auf fruchtbaren Boden. Dagegen witzelten Wortspieler und Spaßvögel mit Englischkenntnissen darüber. Back-Drive-In - Fahr hinten rein! Solche Geschichten eben. Buck hatte diese Anspielungen nie so ganz verstanden, die englische Sprache war ihm ebenso fremd wie amerikanische Ideen.
An gewöhnlichen Tagen kam Mahlmann immer nachmittags und holte sich die übriggebliebenen Brötchen zum halben Preis. Und meist ließen Maike oder eine ihrer Kolleginnen ein, zwei Brötchen mehr in die Tüte fallen. Besser auf Buckis Tisch als im Mülleimer.
Heute, im Hochgefühl des Feiertags leistete Mahlmann sich ein Baguette mit Kochschinken und Salatblättern - und zusätzlich zwei Brötchen für süßen Belag. Maike, die Verkäuferin, legte ihm mit Augenzwinkern noch eine Frühstücksportion Honig in die Tüte. Buck zwinkerte dankend zurück und sagte:
- Armes Mädchen, bist eine der benigen, die arbeiten müssen, am Tag der Arbeit. Eigentlich müsste er ja Tag der Faulheit heißen, oder nich, hahaha!
Maike kannte Buckis Witze allesamt, lachte höflich und sagte:
- Wenn ich‘s nicht tue, macht‘s eine andere.
- I-Ich bünschte, ich tönnte das auch sagen.
- Komm Bucki, das wird schon, fit und fleißig wie du bist, kriegst du irgendwann wieder ‘n Job.
- Lass tecken, Maike. Mich wollte mit pünfzig schon teiner mehr, nächsten Monat werd‘ ich s-s-sechzig. Dat wird nix mehr.
Aber Maike ließ nicht locker:
- Nur den Kopp nicht hängen lassen, schönen Feiertag wünsch ich dir, Bucki.
Recht hatte sie: im Leid nicht klagen ...
Kurz vorm Allersheimer Tor stieg Mahlmann abermals vom Rad. Die üppige Frau Klages kreuzte mit ihrem dicken, trägen Hund den Weg:
- Morjen, Burkhardt, na, auch am Feiertach schon so früh aus den Federn? Der frühe Vogel fängt den Wurm, was Bucki?
- Ja, Trudel, oder umgekehrt: der frühe Burm fürchtet den Bogel...
- Na du nun wieder mit deinen Spitzfindigkeiten. Was frisch, heute Morgen, oder?
- Bir sind noch bor den Eisheiligen, Trudel, sagte Mahlmann und streichelte den Hund.
- Stimmt schon, aber ich kann gar nicht so schnell zittern, wie ich friere.
Die Klages schüttelte sich. Das Wetter war ihr Lieblingsersatzthema. Wenn sonst nichts los war, Wetter ging immer. Immer mit denselben Sprüchen. Buck sagte:
- Dat bird nicht so bleiben. Ich hab da so ‘n Ziehen in der Hüfte. Benn’s in der Hüfte zieht, kriegen wir immer ander‘ Wetter.
Die Klages wusste um sein wetterfühliges Gelenk und fragte:
- Und? Wie wird’s?
Damit war seine Hüfte natürlich überfragt, aber wenn es jetzt noch klar und kalt war, musste es, wenn es anders werden wollte, warm und regnerisch werden.
- Wärmer würde mir ja genügen, meinte die Klages.
- Ich tann das Wetter spüren, Trudel, machen tann ich es nicht.
- Man gut, sagte die Klages, - dass wir das noch nicht können. Was gäb‘ das für ’ne Kappelei! Und lass dir doch endlich ‘ne neue Hüfte machen. Hab ich dir schon gesacht, wie zufrieden unser Alfred mit seiner neuen Hüfte ist?
- Ja, Trudel, hast du. Letzte Boche schon und auch die Boche davor.
- Ja nu, Bucki, ich mein’s ja nur gut. Der Alfred jedenfalls sacht immer: Ich hab jetzt nur noch ein Viertel der Schmerzen.
Burkhardt Mahlmann hatte den Verdacht, dass alleinstehende Männer bevorzugte Opfer weiblicher Fürsorge waren. Trudels Kinder waren längst aus dem Haus und seit ihr Mann vor drei Jahren gestorben war, wusste sie nicht mehr wohin mit ihrem Mutterinstinkt. Ihren Vermieter Alfred Meyer hatte sie so lange bekniet, bis er sich eine neue Hüfte hatte einsetzen lassen und nun sah sie es als ihren Verdienst an, wenn es ihm so sehr viel besser ging. Ihr Lebensziel war der Satz: Was würden wir nur ohne unsre Trudel machen? Und so war kaum jemand in ihrer Nähe vor ihren guten Ratschlägen sicher.
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