Ernst von Wegen
Texas - Austria
Eine Berg-und-Tal-Novelle für Ein- und Auswanderer
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Inhaltsverzeichnis
Titel Ernst von Wegen Texas - Austria Eine Berg-und-Tal-Novelle für Ein- und Auswanderer Dieses ebook wurde erstellt bei
1. Auf dem Gipfel
2. Vor der Hütte
3. Im Dorf
4. Gespräche
5. Das Fest
6. Ausklang I
7. Ausklang II
8. Im Sog
9. Die Entscheidung
Epilog
Impressum neobooks
„Wir waren kurz vor dem Gipfel, wir sahen schon das Kreuz...“
„Das Kreuz, Papa? Welches Kreuz?“
„Auf den Gipfeln der Alpen stehen Kreuze, mein Sohn...“
„Warum Kreuze, Dad? Warum keine Flaggen? Wenn man ein Land erobert, stellt man doch zuerst seine Flagge auf...“
„Du bringst da einiges durcheinander, Benny. Wir haben das Land nicht erobert, sondern befreit. Aber diese Geschichte erzähle ich dir, wenn du älter bist. Na ja, und die Berge kann man ohnehin nicht erobern...“
„Ach ja, bei den Bergen heißt es ‚bezwingen’...“
„So nennen es die Abenteurer, ich sage lieber: besteigen. Oder einfach: betreten...“
Fast wortgenau kamen die Sätze seines Vaters aus der Tiefe der Erinnerung an die Oberfläche des Bewusstseins. Ben blieb kurz stehen und keuchte. Die dünne Luft machte ihm deutlich mehr zu schaffen, als er vermutet hatte. Verdammt, da gingen welche ohne Sauerstoffgeräte auf die Achttausender und er keuchte und schnaufte bei zweieinhalbtausend Metern schon! Endlich hatte er jenes Kreuz vor Augen, jenen Gipfel, von dem ihm sein Vater so oft und so viel erzählt hatte. Er ignorierte seine Erschöpfung und taumelte auf das Gipfelkreuz zu, wie ein Marathonläufer auf die Ziellinie. An die Stimme seines Vaters konnte Ben sich kaum noch erinnern, er fühlte die Worte mehr, als er sie hörte: so, als würden sie mit jedem Schritt durch seinen Körper schwingen. Das war der Sauerstoffmangel, der im Takt seines rasenden Herzens gegen die Schläfen pochte und die Worte seines Vaters halluzinierte:
„Früher hatten die Menschen eine Heidenangst vor den Bergen, weil sie zu wenig über sie wussten. Man blieb lieber in den sicheren Tälern und wer dennoch einen Berg überqueren musste um in das nächste Tal zu gelangen, begab sich in große Gefahr. Viele von ihnen blieben auf der Strecke, blieben im meterhohen Schnee stecken und erfroren, wurden von Lawinen begraben, oder von Steinen erschlagen, die sich aus den Felswänden lösten. Andere wurden zerfleischt von Bären und Wölfen, die damals noch in den Alpen lebten. Manche erreichten ihr Ziel mit Frostbeulen im Gesicht, mit erfrorenen Fingern oder gebrochenen Beinen. Wahrscheinlich kamen die meisten ohne Schrammen an, aber die Menschen erzählten sich schon immer das Schreckliche am liebsten, und so bekamen die Berge ihren üblen Ruf: Wo der Tod in so vielfacher Gestalt lauerte, musste das Böse hausen! Damals sagten die Leute: Wird es dem Teufel in seiner Hölle zu langweilig, treibt er in den Bergen sein Unwesen. Ohne Not ging früher keiner hinauf in das Reich des namenlosen Grauens. Heute tragen die Gipfel Namen und Kreuze und dadurch glaubt man den Schrecken gebannt...“
‚Scheint zu funktionieren,’ dachte Ben und lächelte ‚ich kann nichts Schreckliches erkennen.’ Fünfzehn Meter vor dem Kreuz blieb er abermals stehen. Die Luft reizte Rachen und Lungen. Zu schnelles, gieriges Atmen tat richtig weh. Ben verspürte Durst, unglaublichen Durst. Und Hunger! Und jenes unbändige Gefühl, das ihn manchmal auch beim Lesen überkam: die tiefe Sehnsucht, diesen Augenblick mit jemandem zu teilen.
Helen war mit den anderen bei der Hütte geblieben. Besser gesagt: Ben hatte sich heimlich davon gemacht. Um Helen zu schonen, sagte er sich, und auch weil ihm der Rest der Gruppe gelegentlich auf die Nerven ging. Dies hier war sein Ding, das ging die anderen nichts an, es waren die Spuren seines Vaters, die er verfolgte, seine Geschichte. Die zwei Jahre, die George Kline in Old Austria als Soldat stationiert gewesen war, hatten ihn sein Leben lang nicht mehr losgelassen. Schon früh hatte er in seinem Sohn die Begeisterung für die Alpen geweckt und sich so einen geduldigen Zuhörer geschaffen, einen Kameraden, mit dem er seine Ausflüge in die Berge immer wieder von Neuem erleben konnte. Was George am meisten fasziniert hatte, begann Ben jetzt erst allmählich zu erahnen: „...es liegt ein geheimnisvoller Zauber in der Einsamkeit der Berge. Und die vollkommene Einsamkeit findet man auf dem Silberstein!“ Gab es so was wirklich? Einen Gipfel mit einer besonderen Aura, die man spüren konnte? Konnte sich Einsamkeit hier anders anfühlen, als anderswo? Ein unvorsichtiger Blick in die grelle Sonne schwärzte Ben’s Sicht für eine Weile. Er schloss die Augen und atmete langsam und tief ein. Noch immer hämmerte es in seinen Schläfen und hallte im Kopf wie ein wildes Trommeln nach. Er öffnete die Augen wieder und seine überreizten Sehnerven setzten ihm die Berge nur widerwillig ins Bild. An der Grenze zur Ohnmacht glaubte er genau jene „Einsamkeit“ zu erfahren, von der sein Vater sprach: ein ausschließliches Erleben seiner selbst, ein Moment absoluten Behagens. Ein Behagen, das erkauft war mit Verausgabung bis zur Grenze. Solche Strapazen konnte er Helen wirklich nicht zumuten. Sie wäre mitgekommen, bestimmt sogar. Aber eben nicht mit seiner Begeisterung. Sie wäre mitgekommen, ihm zu Gefallen und hätte vermutlich halb auf dem Wege schlapp gemacht. Es war für alle besser, wenn er solche Ausflüge alleine machte. Was zum Beispiel hätten seine vier Freunde mit den ständig gezückten Videokameras schon von so einer Tour gehabt? Ihnen war ein Reiseziel so recht wie jedes andere, wenn es nur Unterhaltung bot. Einsamkeit lässt sich nicht fotografieren und Ruhe macht sich schlecht in den bewegten Bildern ihrer Videos, wie also hätten sie verstehen sollen, was er hier finden wollte? Und wie hätte er’s mit ihnen finden können? Also besser alleine. Und nun hatte er es geschafft: er stand auf dem Silberstein, dem Lieblingsberg seines Vaters! Ben zog ein Foto aus der Tasche und verglich es mit der Wirklichkeit. Das Gipfelkreuz streckte seine Arme noch genauso trotzig von sich, wie auf dem Foto. Erst als er näher kam, sah er, wie Wind und Wetter am Holz genagt hatten. Das Foto zeigte den Vater mit zwei weiteren US-Soldaten. „Wir hatten dafür zu sorgen, dass nach den Katastrophen „Drittes Reich“ und „Zweiter Weltkrieg“ wieder ein normales Leben möglich wurde.“ Erst als Jugendlicher hatte Ben verstanden, wie das gemeint gewesen war. ‚Wenn ich’s nicht wüsste’, dachte er, ‚käme ich nicht auf die Idee, eine solche Landschaft könne solche Katastrophen gebären!’
Ben hielt das Foto vor die scharfgezackten Konturen der fernen Dreitausender und nannte einen Gipfel nach dem anderen mit seinem Namen, so wie sein Daddy sie ihm genannt hatte: Adlerkofel, Totenkopf, Großer und Kleiner Himmelturm, Schneespitze, Frauenwand, Steinteufel..., Ben hätte sie aus dem Gedächtnis zeichnen können! Nur der Gletscher, der auf George Klines Fotografie noch mächtig zwischen den majestätischen Riesen hervorquoll, sich lang und breit über das Kar wälzte und dann stoppte, wie ein Raubtier, das den Sprung in die bewohnte Gegend scheute – dieser Gletscher hatte sich weit zurückgezogen und streckte Ben bloß noch frech seine kleine weiße Zunge zwischen Schneespitze und Frauenwand heraus. Auch die dünne Luft in 2516 Metern Höhe verriet das Foto nicht.
„Eines Tages werden wir zusammen auf dem Silberstein stehen“ hatte ihm der Vater so oft versprochen. Und als George schon gewusst hatte, dass er sterbenskrank gewesen war, hatte er sein Versprechen immer mit einem Zusatz versehen:
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