»Ach Quatsch, ich hab in einigen Klausuren einfach tierisch Schwein gehabt.«
»Nee, das glaub ich dir nicht. Aber komm, trinken wir einen auf deinen Geburtstag.« Lena ist mir überhaupt nicht mehr abgeneigt, ganz im Gegenteil: Das scheint genau in ihren Plan zu passen. Sie will sich abschießen. Und zwar gemeinsam mit mir! Die Folgezeit des Abends gehört sie nun mir allein. Wir verscheuchen ein paar Gäste und nehmen am Küchentisch Platz, trinken Jägermeister , Sekt und Bier im Wechsel und synchron und lachen viel. Mittlerweile darf auch in der Wohnung geraucht werden, von daher zünde ich mir vereinzelt eine Zigarette an, ohne zu vergessen auch Lena regelmäßig eine anzubieten. Eigentlich raucht sie nicht. Ähnlich wie ich. Nur auf Partys und anderen Gelegenheiten lässt man sich auf gesundheitlicher Ebene ein wenig gehen. Nach und nach verabschieden sich Gäste bei Lena und irgendwann ist es zumindest in der Küche auffällig leer geworden. Wir sitzen uns derweil nicht mehr gegenüber, sondern haben die Platzkonstellationen nach diversen Toilettengängen immer wieder gewechselt. Wir sitzen nun nebeneinander.
»Komm Mikka! Lass uns Brüderschaft trinken!« Brüderschaft trinken. Das ist so eine Erfindung pubertierender Teenager. Auf diese Weise hat man die moralische Erlaubnis jeden Jungen und jedes Mädchen unabhängig von ihren oder des eigenen Beziehungsstatus zu küssen. Selten bleibt es dabei beim »brüderlichen« Küsschen. Ein Geniestreich der dauergeilen Jugend. Lena füllt unsere klebrigen Pinnchen mit tiefgekühltem Jägermeister wieder auf, nimmt beide Gläser in die Hand und guckt mich erwartungsvoll an.
»Du, Lena. Ich weiß nicht, ob das so ne gute…«
»A, a, a«, unterbricht sie mich. »Ich habe Geburtstag und werd ja noch mit einem guten Freund Brüderschaft trinken dürfen. Jetzt sei mal nicht so!« Ich zweifle einen kleinen Moment, ob ich das wirklich möchte. Ich wollte ja nichts anderes, aber nun bekomme ich Lampenfieber. Aber solang sie nur mit »einem guten Freund« Brüderschaft trinkt, muss alles in Ordnung sein. Dann passiert nicht mehr.
Wir stoßen an und überkreuzen unsere Arme, um im Anschluss daran in eingehakter Position und brüderlicher Verbundenheit den süßlich bitteren Alkohol hinunterzuspülen. Lena schüttelt sich. Ich nicht. Dafür bin ich viel zu aufgeregt und in viel zu großer Erwartung auf das, was nun folgen soll. Wir stellen beide unser Schnapsglas auf den Tisch und schauen uns in die Augen. Mein Gott, sie ist so wunderschön. Ihre Haut ist absolut rein. Keine Pore, kein Makel, kein gar nichts. Fast wie eine Puppe. Ihre Haut scheint immun gegen Alkohol, Nikotin und schlechtes Essen zu sein. Ich starre sie bewundernd an, dann schließt Lena ihre Augen und nähert sich meinem Gesicht. Meine Augen bleiben geöffnet und ich starre Lena in die wunderschöne Gesichtspartie, auf ihren wunderschönen Mund, der mir langsam näher und näher kommt. Dann schließe ich auch meine Augen. Mein Herz fängt an schneller zu schlagen und unsere Lippen berühren sich. Ihre Lippen sind weich wie Butter. Wie solche Butter, die bei einem sommerlichen Frühstück in der Natur von der morgendlichen Kraft der Sonne angewärmt wird. Die Illusion wird nur durch die fiese Jägermeister -Note auf unseren Lippen gestört. Als ich gerade beginne, ähnlich wie die Butter in der Morgensonne, dahinzuschmelzen, zieht Lena ihren Mund überraschend schnell wieder zurück und fragt mich, ob wir nicht noch was rüber zu den anderen gehen wollen. Ein bisschen tanzen oder so. Ein bisschen tanzen also.
Das war alles? Ein kleines unbedeutendes Küsschen im Zeichen der Brüderschaft. Echt jetzt? So sagt es die gängige Kuss-Regel des Rituals. Ich lag ihr auf dem Präsentierteller und sie nimmt die Möglichkeit trotz der Unmengen an konsumiertem Alkohol nicht wahr? Oder gerade deswegen? Scheiß Alkohol. Es ist mir fast ein wenig peinlich, da wirklich mehr erwartet zu haben. Insgeheim zumindest. Die Möglichkeit hätte ja bestanden. Also hey, das Anlehnen, das Abschießen, das Brüderschaftstrinken. Der jugendliche Freischein zum Knutschen versagte. Die Mission schlug fehl.
»Klaro, lass mal rüber gehen«, versuche ich zustimmend zu wirken. In diesem Moment fällt mir ein, dass ich gar nicht mehr nach Ben gesehen habe. Fast schon fühle ich mich wie Michael, der durch seine blöde Freundin seine Freunde vernachlässigt. Ich habe Ben vor Stunden mit dem Schwulen alleine gelassen. Er hätte ja auch mal rüberkommen können. Lena torkelt vor mir her, auf dem Weg durch den langen Flur in Richtung des Wohnzimmers, aus dem gerade hörbar das neue Album von Franz Ferdinand läuft. Endlich gute Musik. Sie dreht sich kurz um und lächelt mich verführerisch an. Sie weiß, wie sie mich verrückt machen kann. Wie soll ich das denn jetzt wieder deuten? Mann, hör auf zu lächeln! In der Türe zum Wohnzimmer bleibt sie stehen, schaut kurz hinein und dreht sich dann wieder zu mir.
»Ist dein Freund eigentlich schon weg?«
»Äh, ich weiß nicht. Ich denke nicht, warum?«
»Hab den gar nicht mehr gesehen. Naja, egal.« Sie lächelt mich schon wieder an. Ganz klar und unverkennbar. Wenn ich von ihr so angelächelt werde, ist es natürlich egal, wo sich gerade Ben herumtreibt, da hat sie Recht. In diesem Falle ist eigentlich alles egal. Als ich auch etwas schwankend auf ihrer Höhe angekommen bin, nimmt sie meine Hand und weist mich in ein Nebenzimmer. Es stellt sich als ihr Zimmer heraus. In einer Ecke brennt ein kleines Standlicht. Sie schubst mich auf ihr Bett, beugt sich zu mir über und küsst mich ohne jede Vorwarnung in einer derartigen Intensität, wie ich sie lange nicht mehr erlebt habe. Das alles passiert in Zeitlupe und doch so schnell, dass ich gar keine Möglichkeit eingeräumt bekomme, über die moralische Lage dieser Situation nachdenken zu können. Erst als sie aufhört mich zu küssen und damit beginnt ihr Top auszuziehen, schaffe ich es, über meinen eigentlich festen Beziehungsstatus nachzudenken. Ist das das Richtige, was ich hier gerade tue oder vielmehr mit mir tun lasse? Wohl kaum. Meine Sinne entfalten sich. Mir fällt auf, dass es in ihrem Zimmer angenehm kühl ist und es sehr wohlriechend duftet. Brannten hier etwa Räucherstäbchen? Hat das Lena etwa geplant, dass wir hier zur späteren Uhrzeit landen würden? Ihr Zimmer ist aufgeräumt und an der Wand hängen Werbeplakate von H&M mit metrosexuellen Männern und sehr dünnen und lasziv dreinschauenden Frauen. Ihr Bett ist weich und die weiße Bettwäsche ist farblich zum Rest der Einrichtung ihres Zimmers abgestimmt. Lena hat sich von ihrem Oberteil erleichtert. Sie sitzt mit weißem BH auf mir drauf. Ich richte mich umständlich auf und muss dabei unsicher wirken, weil ich gerade nicht weiß, ob ich sie umarmen, weiter küssen oder doch lieber das Gespräch suchen sollte. Lena erkennt mein Zögern und nimmt mir die Entscheidung entschlossen ab. Sie drückt mich fest an sich, küsst mich erneut, aber die leidenschaftliche Explosion ist zu einseitig. Ihre Hand landet in meinem Schritt, aber da regt sich gerade gar nichts. Nach gefühlten zehn Minuten Rumgeknutsche drücke ich Lena sanft von mir und schaue sie um Verständnis ringend an.
»Lena, stopp mal! Ich kann das glaub ich nicht.«
»Warum nicht?«, haucht sie mir ins rechte Ohr.
Sie will mich schon wieder küssen und öffnet dazu ihren zuckersüßen Mund zur Hälfte.
»Weil… ich muss nach Ben schauen.«
Oh Mann, bin ich betrunken. Ich versuche gerade tatsächlich Lena eine Abfuhr zu erteilen, weil ich nach Ben schauen muss? Sie guckt mich irritiert an.
» Was musst du?«
»Nein«, sage ich. »Ben ist… egal! Ich… ich kann das nicht, weil… Lena, ich hab ne Freundin.«
Das war ehrlich, aber irgendwie auch blöd jetzt. Obwohl mich gerade ein wenig Stolz erfüllt.
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