Titelseite Selma Lagerlöf Nils Holgersson Die wunderbare Reise mit den Wildgänsen Vollständige deutsche Ausgabe
I. Der Junge
II. Akka von Kebnekajse
III. Wildvogelleben
IV. Glimminghaus
V. Der große Kranichtanz auf dem Kullaberge
VI. Im Regenwetter
VII. Die Treppe mit den drei Stufen
VIII. Am Rönneberger Bach
IX. Karlskrona
X. Die Reise nach Öland
XI. Die Südspitze von Öland
XII. Die kleine Karlsinsel
XIII. Zwei Städte
XIV. Die Sage von Samlaand
XV. Die Krähen
XVI. Die alte Bauerfrau
XVII. Vom Taberg bis Husquarna
XVIII. Der große Vogelsee
XIX. Die Wahrsagung
XX. Die Bahn aus Fries
XXI. Die Geschichte von Karr und Graufell
XXII. Der wunderschöne Garten
XXIII. In Närke
XXIV. Der Eisbruch
XXV. Die Erbteilung
XXVI. Im Bergwerkdistrikt
XXVII. Das Eisenwerk
XXVIII. Der Dalelf
XXIX. Das Bruderteil
XXX. Der Walpurgisabend
XXXI. Bei den Kirchen
XXXII. Die Überschwemmung
XXXIII. Die Sage von Uppland
XXXIV. In Upsala
XXXV. Daunenfein
XXXVI. Stockholm
XXXVII. Der Adler Gorgo
XXXVIII. Über Gästrikland dahin
XXXIX. Ein Tag in Hälsingeland
XL. In Medelpad
XLI. Ein Morgen in Ångermanland
XLII. Västerbotten und Lappland
XLIII. Das Gänsemädchen Aase und der kleine Mads
XLIV. Bei den Lappen
XLV. Gen Süden! Gen Süden!
XLVI. Die Sage vom Härjetal
XLVII. Värmland und Dalsland
XLVIII. Ein kleiner Herrenhof
XLIX. Das Gold auf der Schäre
L. Silber im Meer
LI. Ein großer Herrenhof
LII. Die Reise nach Bemmenhög
LIII. Bei Holger Nilsens
LIV. Der Abschied von den Wildgänsen
Selma Lagerlöf
Nils Holgersson
Die wunderbare Reise mit den Wildgänsen
Vollständige deutsche Ausgabe
Der Kobold.
Sonntag, den 20. März.
Es war einmal ein Junge. Er mochte wohl vierzehn Jahre alt sein, war lang aufgeschossen und hatte flachsgelbes Haar. Er war zu nichts recht zu gebrauchen. Am liebsten mochte er schlafen und essen, sein größtes Vergnügen aber war, dumme Streiche zu machen.
Es war an einem Sonntagmorgen. Die Eltern des Jungen waren im Begriff, sich zum Kirchgang anzukleiden. Der Junge selbst saß in Hemdärmeln auf dem Tisch und dachte, wie schön es sei, daß Vater und Mutter beide fortgingen, so daß er ein paar Stunden lang sein eigener Herr sein konnte. »Jetzt kann ich doch Vaters Flinte herunternehmen und ein wenig damit schießen, ohne daß sich gleich jemand dahineinmischt,« sagte er zu sich selbst.
Aber es war fast, als habe der Vater die Gedanken des Knaben erraten, denn gerade als er in der Tür stand und gehen wollte, blieb er stehen und wandte sich nach ihm um.
»Wenn du nicht mit Mutter und mir in die Kirche willst,« sagte er, »so finde ich, du solltest auf alle Fälle eine Predigt hier zu Hause lesen. Willst du mir das versprechen?«
»Ja,« sagte der Junge, »das kann ich gerne tun.« Und er dachte natürlich, daß er nicht mehr lesen würde, als er Lust hatte.
Der Junge meinte, er habe seine Mutter sich noch nie so schnell bewegen sehen. In einem Nu war sie bei dem Wandgesims, nahm Luthers Postille herunter und legte sie auf den Tisch am Fenster, die Predigt des Tages aufgeschlagen. Sie schlug auch im Evangelienbuch auf und legte es neben die Postille. Schließlich zog sie den großen Lehnstuhl an den Tisch heran, der im vorigen Jahr auf der Auktion im Vemmenhöger Pfarrhaus gekauft war, und in dem sonst niemand als der Vater sitzen durfte.
Der Junge saß da und dachte bei sich, die Mutter mache sich doch gar zu viele Mühe mit den Vorbereitungen, denn er hatte gar nicht die Absicht, mehr als eine Seite hier und da zu lesen. Aber nun war es zum zweitenmal gerade so, als wenn der Vater ganz durch ihn hindurchsehen könne, denn er sagte strenge: »Sieh nur zu, daß du ordentlich liest! Denn wenn wir nach Hause kommen, überhöre ich dir jede Seite, und hast du eine Seite übersprungen, so kannst du mir glauben, ich werd dich lehren!«
»Die Predigt ist vierzehn und eine halbe Seite lang,« sagte die Mutter, wie um das Maß voll zu machen. »Du mußt dich wohl gleich hinsetzen und lesen, wenn du hindurchkommen willst,«
Und dann gingen sie endlich, und als der Junge in der Tür stand und ihnen nachsah, fand er, daß sie ihn in einer Falle gefangen hatten. »Die gehen nun dahin und sind stolz darauf, daß sie es so gut gemacht haben und ich hier nun, während der ganzen Zeit, daß sie fort sind, über der Predigt brüten muß,« dachte er bei sich.
Aber sein Vater und seine Mutter waren weit davon entfernt, stolz über irgend etwas zu sein; sie waren im Gegenteil ziemlich betrübt. Sie waren arme Häuslerleute und hatten nicht viel mehr Boden als einen Gartenfleck. In der ersten Zeit, als sie das Haus hatten, konnten sie nur ein Schwein und ein paar Hühner halten, aber sie waren selten strebsame und tüchtige Leute, und jetzt hatten sie sowohl Kühe als auch Gänse. Es war vorzüglich vorwärts gegangen mit ihnen, und hätten sie nicht an den Sohn denken müssen, so wären sie an diesem schönen Sonntagmorgen froh und vergnügt zur Kirche gegangen. Der Vater klagte darüber, daß er faul und nachlässig sei, in der Schule hatte er nichts getan, und er war so untüchtig, daß er ihn nur mit Not und Mühe die Gänse hüten lassen konnte. Und die Mutter bestritt keineswegs, daß das wahr sei, aber sie war am meisten betrübt darüber, daß er ein so wilder und arger Bube war, hart gegen Tiere und boshaft gegen Menschen, »Wenn doch Gott ihn beugen und ihm einen andern Sinn geben wollte,« sagte die Mutter. »Sonst wird er ein Unglück für sich selbst und für uns.«
Der Junge stand lange da und überlegte, ob er die Predigt lesen solle oder nicht. Aber dann wurde er mit sich selbst einig, daß es diesmal am besten sein würde, wenn er gehorchte. Er setzte sich in den Pfarrhauslehnstuhl und fing an zu lesen. Als er aber eine Weile die Wörter halblaut hergeplappert hatte, war er nahe daran, über sein eigenes Gemurmel einzuschlafen, und er merkte, daß er anfing einzunicken.
Draußen war das schönste Frühlingswetter. Man war zwar nicht weiter im Jahr als am zwanzigsten März, aber der Junge wohnte im West-Vemmenhöger Kirchspiel, weit unten im südlichen Schonen, und da war der Frühling schon im vollen Gange. Es war noch nicht grün, aber es war frisch und im Begriff, Knospen zu treiben. Da war Wasser in allen Gräben, und der Huflattich stand an den Grabenrändern in Blüte. All das kleine Krautwerk, das auf den Steinwällen wuchs, war braun und blank. Die Buchenwälder in der Ferne standen gleichsam da und schwollen und wurden mit jedem Augenblick dichter. Der Himmel war hoch und hellblau. Die Haustür stand angelehnt, so daß man in der Stube hören konnte, wie die Lerche sang. Die Hühner und Gänse gingen draußen im Hofe, und die Kühe, die die Frühlingsluft bis ganz in ihre Stände hinein spürten, gaben von Zeit zu Zeit ein Brüllen von sich.
Der Junge las und nickte und kämpfte mit dem Schlaf. »Nein, ich will nicht einschlafen,« dachte er, »denn dann komme ich heute vormittag nicht durch dies hier hindurch.«
Aber wie es nun kommen mochte, er schlief dennoch ein.
Er wußte nicht, ob er eine kurze oder eine lange Zeit geschlafen hatte, aber er erwachte davon, daß er ein schwaches Geräusch hinter sich hörte.
Auf der Fensterbank, gerade vor dem Jungen, stand ein kleiner Spiegel, und darin konnte man beinahe die ganze Stube sehen. In demselben Augenblick, als nun der Junge den Kopf erhob, fiel sein Blick in den Spiegel, und da sah er, daß der Deckel von der Mutter Truhe geöffnet war.
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