»Komm du bloß heran!« sagte Mairose, »dann will ich dir einen Stoß versetzen, den du so bald nicht wieder vergißt!«
»Komm hierher,« sagte Goldlilie, »dann sollst du Erlaubnis haben, auf meinen Hörnern zu tanzen!«
»Komm nur her, dann sollst du fühlen, wie es schmeckte, wenn du mit deinen Holzschuhen nach mir warfst, wie du es diesen Sommer so oft getan hast!« brüllte Stern.
»Komm nur her, dann will ich dir die Bremse heimzahlen, die du mir ins Ohr gesetzt hast,« schrie Goldlilie.
Mairose war die älteste und klügste von ihnen, und sie war die allerzornigste, »Komm nur her,« sagte sie, »dann will ich dir alle die Male heimzahlen, wo du deiner Mutter den Milchhuker weggezogen hast, und alle die Male, wo du ihr ein Bein gestellt hast, wenn sie mit dem Milcheimer geschleppt kam, und alle Tränen, die sie hier um dich vergossen hat.«
Der Junge wollte ihnen sagen, er bereue, daß er schlecht gegen sie gewesen war, und daß er so etwas nie wieder tun wolle, wenn sie ihm nur sagen wollten, wo der Kobold sei. Aber die Kühe hörten nicht nach ihm hin. Sie wurden so erregt, daß er bange wurde, eine von ihnen könne sich losreißen, und er hielt es für das beste, sich aus dem Kuhstall herauszuschleichen.
Als er wieder draußen war, befiel ihn eine große Verzagtheit. Er sah ein, daß niemand auf dem Hofe ihm helfen wollte, den Kobold zu finden. Und es würde wohl auch nicht viel helfen, wenn er ihn fand.
Er kroch auf den breiten Steinwall hinauf, der das Grundstück umgab und der mit Dornen und Brombeerranken bewachsen war. Da setzte er sich hin, um darüber nachzudenken, wie es werden sollte, wenn er nie wieder ein Mensch würde. Wenn nun der Vater und die Mutter aus der Kirche nach Hause kämen, würde große Verwunderung herrschen. Ja, im ganzen Lande würde man sich verwundern, und aus Ost-Vemmenhög und aus Torp und aus Skurup würden Leute kommen; aus der ganzen Vemmenhöger Heide würde man kommen, um ihn zu sehen. Und vielleicht würden der Vater und die Mutter ihn nach dem Kiriker Markt mitnehmen und ihn für Geld sehen lassen.
Nein, das war schrecklich zu denken. Er wollte nur wünschen, daß ihn nie ein Mensch mehr zu sehen bekam.
Es war schrecklich, wie unglücklich er war. Niemand in der ganzen Welt war so unglücklich wie er. Er war kein Mensch mehr, sondern ein Ungetüm.
Nach und nach ward es ihm klar, was es hieß, daß er kein Mensch mehr war. Jetzt war er von allem getrennt: er konnte nicht mit andern Knaben spielen, er konnte das Haus nicht nach den Eltern übernehmen, und er konnte nun gar kein Mädchen bekommen, um sich mit ihr zu verheiraten.
Er saß da und betrachtete sein Heim. Es war ein kleines, weißgetünchtes Fachwerkhaus, das unter dem hohen, schrägen Strohdach wie in die Erde hineingedrückt dalag. Die Nebengebäude waren ebenfalls klein, und die Felder waren so schmal, daß ein Pferd nur mit genauer Not darauf umwenden konnte. Aber wie klein und ärmlich das Haus auch war, jetzt war es doch zu gut für ihn. Er konnte kein anderes Haus verlangen, als ein Loch unter dem Fußboden im Stall.
Das Wetter war so wunderbar schön. Es sickerte und es sproßte und es zwitscherte rings um ihn her. Er aber saß in tiefem Kummer da. Er konnte sich nie wieder über irgend etwas freuen.
Nie hatte er den Himmel so blau gesehen wie heute. Und Zugvögel kamen dahergesaust. Sie kamen aus dem Ausland und waren über die Ostsee gereist, sie waren gerade auf Smygehuk zugesteuert, und jetzt waren sie auf dem Wege gen Norden. Da waren sicher viele verschiedene Arten, aber er konnte keine andere erkennen als die wilden Gänse; sie kamen in zwei langen Reihen geflogen, die sich in einem Winkel trafen.
Es waren schon mehrere Scharen von wilden Gänsen vorübergeflogen. Sie flogen hoch oben, aber er konnte sie doch rufen hören: »Jetzt geht's in die Berge! Jetzt geht's in die Berge!«
Als die wilden Gänse die zahmen Gänse sahen, die auf dem Hofe herumwatschelten, senkten sie sich zur Erde herab und riefen: Kommt mit! Kommt mit!
Die zahmen Gänse konnten sich nicht enthalten, einen langen Hals zu machen und zu horchen. Aber sie antworteten ganz vernünftig: »Wir haben es gut, so wie wir es haben. Wir haben es gut, so wie wir es haben.«
Es war, wie gesagt, ein wunderbar schöner Tag mit einer Luft, in der zu fliegen eine wahre Freude sein mußte, so frisch und so leicht. Und mit jeder neuen Schar von wilden Gänsen, die vorüberflog, wurden die zahmen Gänse mehr und mehr unruhig. Ein paarmal schlugen sie mit den Flügeln, als hätten sie Lust, mitzufliegen. Aber dann sagte immer eine alte Gänsemutter: »Seid doch nicht verrückt! Die da oben werden noch frieren und hungern.«
Einen jungen Gänserich erfaßte eine heftige Reiselust bei all dem Rufen. »Wenn noch eine Schar kommt, fliege ich mit,« sagte er.
Und dann kam eine neue Schar, die ebenso rief wie die andere. Da schrie der junge Gänserich: »Wartet! Wartet! ich komme.«
Er breitete die Flügel aus und schwang sich in die Luft hinauf, aber das Fliegen war ihm etwas so ungewohntes, daß er wieder auf die Erde zurücksank.
Die wilden Gänse mußten seinen Ruf aber doch gehört haben. Sie kehrten um und flogen langsam zurück, um zu sehen, ob er kam.
»Wartet! Wartet!« rief er und machte einen neuen Versuch.
Dies alles hörte der Junge, während er da auf dem Steinwall lag. »Es würde wirklich schlimm sein,« dachte er, »wenn der große Gänserich davonfliegt. Vater und Mutter würden sehr ärgerlich darüber sein, falls er weg wäre, wenn sie aus der Kirche kommen.«
Während er so dachte, vergaß er abermals ganz, daß er klein und ohnmächtig war. Er sprang von dem Steinwall mitten in die Gänseschar hinein und schlang den Arm um den Gänserich. »Du sollst es schon lassen, fortzufliegen!« sagte er.
Aber gerade im selben Augenblick hatte der Gänserich entdeckt, wie er es anfangen mußte, um sich von der Erde emporzuheben. Er hatte keine Zeit, den Jungen abzuschütteln, der mußte mit ihm in die Luft hinauf.
Es ging so schnell aufwärts, daß dem Jungen die Luft wegblieb. Ehe es ihm klar wurde, daß er den Hals des Gänserichs freigeben mußte, war er so hoch oben, daß er sich totgefallen hätte, wenn er heruntergestürzt wäre.
Das einzige, was er tun konnte, um seine Lage ein wenig zu verbessern, war ein Versuch, auf den Rücken des Gänserichs hinaufzukommen. Er arbeitete sich wirklich da hinauf, wenn auch nicht ohne Mühe. Und es war auch keine leichte Sache, auf dem platten Rücken zwischen den beiden schwingenden Flügeln festzusitzen. Er mußte mit beiden Händen einen tiefen Griff in Federn und Flaumen hineinmachen, um nicht abzufallen.
Das gewürfelte Tuch.
Dem Jungen ward es so schwindelig, daß er lange nicht wußte, wie ihm war. Die Luft sauste und pfiff ihm entgegen, die Flügel bewegten sich, und es brauste in den Federn wie ein wahrer Sturm. Dreizehn Gänse flogen um ihn herum, und alle schlugen sie mit den Flügeln und schnatterten. Es flimmerte ihm vor den Augen, und es sauste ihm in den Ohren. Er wußte nicht, ob sie hoch oder niedrig flogen, oder wohin es mit ihnen ging.
Endlich kam er so weit zu sich, daß er begriff, er müsse sich klar darüber werden, wohin die Gänse mit ihm flogen. Aber das war nicht so leicht, denn er wußte nicht, woher er den Mut nehmen sollte, hinabzusehen. Er war fest überzeugt, daß ihn schwindeln würde, wenn er es versuchte.
Die wilden Gänse flogen nicht so sehr hoch, da der neue Reisekamerad nicht in der allerdünnsten Luft atmen konnte. Um seinetwillen flogen sie auch ein wenig langsamer als sonst.
Schließlich zwang der Junge sich doch, einen Blick auf die Erde hinabzuwerfen. Und es schien ihm, als liege unter ihm ein großes Tuch ausgebreitet, das in eine unglaubliche Menge kleiner und großer Würfel eingeteilt war.
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