sie, auf Raub auszugehen und zu töten, was ihr
in den Weg käme. Auf ihrem Wege traf sie eine Antilope,
die graste friedlich nahe dem Walde. Die Löwin
schlich sich leise und vorsichtig dicht an das Tier
heran. Gerade wollte sie losspringen, als die Antilope
sich umsah und, die Löwin freundlich anblickend,
rief: »Willkommen, Gevatter!« Da schämte sich die
Löwin ihres bösen Vorhabens und verschonte die Antilope,
die sie so freundlich begrüßt hatte.
Goso1
Ein Märchen aus Mombassa.
Es war einmal ein Mann, der hieß Goso. Goso liebte
die Kinder sehr und wurde von ihnen wieder geliebt.
Er versammelte täglich eine Schar von Kindern um
sich unter einem Affenbrotbaum und erzählte ihnen
viele schöne Geschichten. Als er eines Tages wieder
so mit ihnen die Zeit verschwatzte, kam eine Gazelle;
die kletterte auf den Baum, brach eine Frucht ab und
warf sie hinunter. Die Frucht traf Goso an den Kopf
und schlug ihm eine tiefe Wunde, an der er verblutete.
Als er tot war, begruben ihn die Kinder und weinten
bitterlich. Als sie nun so allein unter dem Affenbrotbaume
saßen, sprachen sie zueinander: »Wir müssen
Rache nehmen an dem, der unseren Freund getötet
hat. Laßt uns ausfindig machen, wer die Frucht brach
und warf.«
Als sie darüber nachdachten, wer wohl der Täter
gewesen sei, kamen sie überein, daß kein anderer als
der Südwind zu jener Zeit in den Zweigen des Affenbrotbaumes
gewesen sein könne, und sie beschlossen,
ihn zu schlagen. Deshalb fingen sie ihn und wollten
eben mit der Züchtigung beginnen, als er zu ihnen
sprach: »Ich bin der Südwind! Was tat ich euch, daß
ihr mich fangt und schlagen wollt?« Sie antworteten:
»Wir wissen sehr wohl, wer du bist! Du hast unseren
Freund Goso getötet. Denn du hast von dem Baume
die Frucht gebrochen und mit ihr den tödlichen Wurf
ausgeführt! Wie konntest du!« Da sprach der Wind:
»Wäre ich ein Häuptling, glaubt ihr, daß eine Steinmauer
mir ein Hindernis in meinem Wege sein könnte?
« Da gingen die Kinder zur Steinmauer und schlugen
die. Diese aber sprach: »Was schlagt ihr mich?
Was tat ich euch.« Sie antworteten: »Steinmauer, du
Feindin des Südwindes! Du warst ihm ein Hindernis;
deshalb floh er in den Affenbrotbaum, brach eine
Frucht und tötete mit ihr unseren Freund Goso. Du
solltest dich schämen!« Die Mauer entgegnete:
»Wenn ich ein Häuptling wäre, dürfte keine Ratte ein
Loch in mich bohren.« Da gingen die Kinder hin und
schlugen die Ratte. Sie rief: »Mich schlagt ihr?
Warum? Was habe ich getan?« Man antwortete ihr:
»Du Ratte, hast ein Loch durch die Mauer gebohrt mit
deinen scharfen Zähnen; da hielt die Mauer den Südwind
auf in seinem Lauf, und er stieg auf den Baum,
brach eine Frucht und tötete unseren Freund Goso.
Wie konntest du!« Da rief die Ratte: »Ach, wäre ich
ein Häuptling! Keine Katze dürfte mich fressen!«
Nun war es an der Katze, geschlagen zu werden.
Auch sie fragte: »Was schlagt ihr mich? Was tat ich
euch?« Die Kinder antworteten: »Katzen fressen Ratten;
Ratten bohren Löcher in Mauern; Mauern hemmen
Winde, und ein Wind war's, der unseren Freund
Goso tötete.« Die Katze jammerte: »Kein Strick dürfte
mich binden, wäre ich ein Häuptling!« Sofort gingen
die Kinder zum Strick und schlugen ihn. »Was tut
ihr?« rief der. »Wer bin ich, daß ihr mich schlagt? Ich
tat euch nichts!« Die Kinder aber antworteten: »Du
bist der Strick, der die Katze bindet; die Katze frißt
die Ratte; die Ratte bohrt Löcher in Mauern; Mauern
hemmen Winde, und der Südwind war's, der unseren
Freund Goso tötete. Schäme dich!« Der Strick sprach:
»Nur weil ich kein Häuptling bin, darf mich das Messer
schneiden.« Da wurde das Messer geschlagen.
Das rief: »Wißt ihr denn, wer ich bin, und tat ich euch
etwas?« »Wir wissen, wer du bist,« antworteten die
Kinder; »du bist das Messer, welches den Strick
durchschneidet; der Strick bindet die Katze; die Katze
frißt die Ratte; die Ratte bohrt ein Loch in die Mauer;
die Mauer hemmt den Wind; der Wind warf die
Frucht vom Affenbrotbaum auf unseren Freund Goso,
und Goso starb! Schäme dich!« Das Messer sprach:
»O, wäre ich ein Häuptling! Kein Feuer dürfte mir
etwas anhaben!« Da gingen die Kinder zum Feuer
und schlugen es. »Was schlagt ihr mich?« rief dieses.
»Ich habe euch nichts getan.« Sie antworteten: »Du
bist das Feuer, der Zerstörer des Messers; das Messer
schneidet den Strick; der Strick bindet die Katze; die
Katze frißt die Ratte; die Ratte bohrt ein Loch in die
Mauer; die Mauer hemmt den Wind; der Wind warf
die Frucht vom Affenbrotbaum auf unseren Freund
Goso, daß er starb. Schäme dich!« Das Feuer sprach:
»Wäre ich ein Häuptling, Wasser könnte mir nichts
anhaben.« Da schlugen sie das Wasser. Das sagte:
»Was tat ich, daß ihr mich schlagt? Wißt ihr, wer ich
bin?« Sie antworteten dem Wasser: »Du bist das
Wasser; Wasser löscht Feuer, Feuer zerstört das Messer;
das Messer zerschneidet Stricke; Stricke binden
Katzen; Katzen fressen Ratten; Ratten bohren Löcher
in Mauern; Mauern hemmen Winde, und der Südwind
war's, der mit der Frucht des Affenbrotbaumes unseren
Freund Goso tötete. Schäme dich!« Da murmelte
das Wasser: »Kein Ochse dürfte aus mir trinken,
wenn ich ein Häuptling wäre.« Auch den Ochsen
schlugen die Kinder: »Was schlagt ihr mich?« fragte
er. »Tat ich euch etwas?« Sie antworteten: »Du bist
der Ochse, der Trinker des Wassers; das Wasser ist
der Zerstörer des Feuers, das Feuer der Verderber des
Messers; das Messer schneidet den Strick; der Strick
bindet die Katze; die Katze frißt die Ratte; die Ratte
bohrt ein Loch in die Mauer; die Mauer hemmt den
Wind; der Wind aber hat unseren Freund Goso getötet;
denn er warf die Frucht des Affenbrotbaumes auf
ihn.« »Kein Holzbock würde mich stechen, wäre ich
ein Häuptling,« sagte der Ochse. Da gingen die Kinder
zum Holzbock und schlugen ihn. »Ihr schlagt
mich?« rief der. »Warum? Was tat ich euch?« Sie
sprachen: »Du stichst den Ochsen; der Ochse säuft
das Wasser; das Wasser löscht das Feuer; das Feuer
verdirbt das Messer; das Messer zerschneidet den
Strick; der Strick bindet die Katze; die Katze frißt die
Ratte; die Ratte bohrt ein Loch in die Mauer; die
Mauer hemmt den Wind, und er war's, der mit der
Frucht des Affenbrotbaumes unseren Freund Goso tötete.
« Da jammerte der Holzbock: »Keine Gazelle
würde mich fressen, wenn ich Häuptling wäre!« Da
gingen die Kinder und suchten, bis sie die Gazelle
fanden. Sie schlugen sie, und sie rief: »Was tat ich
euch, daß ihr mich schlagt?« Sie sagten: »Du bist die
Gazelle, die den Holzbock frißt; der Holzbock sticht
den Ochsen; der Ochse säuft das Wasser; das Wasser
löscht das Feuer; das Feuer verdirbt das Messer; das
Messer schneidet den Strick; der Strick bindet die
Katze; die Katze frißt die Ratte; die Ratte bohrt ein
Loch in die Mauer; die Mauer hemmt den Wind; der
Wind war es, der mit der Frucht des Affenbrotbaumes
unseren Freund Goso tötete. Schäme dich, Gazelle!«
Die Gazelle schwieg. Die Kinder aber riefen: »Sie
war es, die ihn getötet hat! An ihr wollen wir Rache
nehmen!«
Und sie töteten die Gazelle.
Fußnoten
1 In dem Märchen von »Goso«, dessen Moral leicht
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