Ein leises Geräusch aus dem Flur ließ Milena aufhorchen. Die Wohnungstür wurde aufgeschlossen. Anja Herlof erhob sich hastig. Noch bevor sie den Flur erreichte, ertönte ein fröhliches „Rate mal, wem ich heute ein Grab geschaufelt habe, Schatz“. Eine männliche Stimme. Anja Herlof begrüßte ihren Freund mit einem übertriebenen Aufschrei. Milena hörte für lange Momente heftiges Schmatzen aus dem Flur, dann ein leises Flüstern. Grab geschaufelt? Offensichtlich war Anja Herlofs Lebensgefährte ein Mensch mit einer Vorliebe für schrägen Humor. Oder steckte mehr dahinter? Anja Herlof hatte es verdächtig eilig gehabt, zu ihrem Freund zu kommen. Um ihn zu warnen?
Der Mann, vielleicht Anfang Zwanzig, erschien im Türrahmen. In Sekundenschnelle registrierte Milena den kahl geschorenen Schädel, das kurzärmlige T-Shirt, die von den Schultern bis zu den Handgelenken mit Symbolen tätowierten Arme, die extrem dünnen Beine in Röhrenjeans und die wachsamen, braunen Augen. Langsam ging der Mann zurück in den Flur und kam nach einigen Augenblicken in einem langärmeligen Shirt mit Kapuze zurück. Schwarz wie alles, was er trug, mit einem Aufdruck, der Milena nichts sagte.
„Frauen werden leicht nervös bei meinem Anblick“, erklärte er mit einem schiefen Lächeln. Der wachsame Ausdruck hatte seine Augen nicht verlassen. „Polizei?“
Milena nickte und stellte sich vor. Ihre Haut prickelte. Nicht immer lag sie mit ihren Vermutungen richtig, aber sie würde ein ganzes Monatsgehalt darauf wetten, dass Anjas Freund keine liebevollen Beziehungen zur Polizei pflegte.
„Sie sind wer?“
„Heiko“, sagte der Mann zögernd.
„Heiko wie?“
„Kling.“
„Sie leben hier?“
„Warum wollen Sie das wissen?“
„Der Ehemann Ihrer ... Freundin ist tot aufgefunden worden. Wir untersuchen, ob Fremdeinwirkung vorliegen könnte.“
„Wie?“
Heiko Kling schien nicht der Hellste zu sein. Oder er wollte sie das denken lassen.
„Mathias Bauer ist gestürzt. Im Wald. Genickbruch.“
Heiko Kling warf seiner Freundin einen Blick zu und schwieg.
„Er könnte gefallen sein.“ Milena machte eine kunstvolle Pause. „Er könnte aber auch gestoßen worden sein.“
„Ach so. Ich soll ihn gestoßen haben?“ Er lachte auf, dann wandte er sich an Anja. „Typisch.“
„Wo waren Sie am vergangenen Montag?“
Anja Herlof stellte sich schützend vor ihren Freund. „Er war hier. Den ganzen Tag. Es war mein freier Tag. Wir haben im Bett gelegen und ferngesehen.“
„Und gefickt, die Kleine war ja in der Schule.“ Heiko Kling grinste. „Ich würd's auch tun, wenn sie da ist. Aber mein Liebchen hier ist da anderer Meinung. Anja ist eine sehr fürsorgliche Mutter.“
Hoffentlich, dachte Milena.
Anja Herlof knuffte ihren Freund in die Seite und lachte. „Angeber. Koch schon mal Kaffee!“
Sie schob ihn in Richtung Küche und drehte sich zu Milena um. „Er schockt die Leute gerne. Aber er ist kein schlechter Mensch. Sehr sanft und liebevoll. Er hat mir noch nie widersprochen. Er tut alles, was ich sage. Er räumt hier auf und wäscht ab. Ein Mann, der freiwillig den Müll runterbringt, wo gibt’s das heute noch? Er ist ganz anders als Mathias. Ziemlich harmlos.“
***
Alex war auf der Fahrt von Eschborn zurück nach Friedberg und hatte über die Freisprechanlage Milenas Nummer im Büro angewählt. Deren Telefon war auf Lautsprecher gestellt, damit Jan verstehen konnte, was sie besprachen.
„Habt ihr irgendeinen Hinweis auf Mord gefunden?“, fragte Alex.
„Keinen“, sagten Milena und Jan gleichzeitig.
„Die Ehefrau ist normalerweise Verdächtige Nummer eins. Was ist mit ihr?“
„Anja Herlof lebt schon seit fünf Jahren von ihrem Ehemann getrennt“, informierte ihn Milena. „Warum sollte sie ausgerechnet jetzt ihren Mann ermorden? Außerdem hat sie ein Alibi.“
„Und das wäre?“
„Ihr Freund. Sie haben zusammen ...“, sie machte eine Pause, „... ferngesehen.“
„Aha.“ Die Ampel schaltete auf Gelb. Alex wusste, dass hinter der Ampel ein Blitzer stand, bremste scharf und kam noch rechtzeitig zum Stehen.
„Hast du die Handynummer von Mathias Bauer herausbekommen?“
„Ja. Hab sie ausprobiert, es hat niemand reagiert.“
„Möglicherweise geklaut. Die Simkarte dann bereits in der Müllverbrennung.“
„Oder vom Mörder mitgenommen“, wandte Milena ein. „Der Provider wird mir die Anrufliste zufaxen.“
„Kümmer dich drum. Was ist mit der Familie Bauer?“
„Die Eltern sind merkwürdig“, sagte Jan. „Als der alte Mann sich an sein Herz griff, dachte ich, der Schmerz um den Verlust seines Sohnes sei zu viel. Aber es war nur eine der häufig auftretenden Herzrhythmusstörungen, wie mir die Ehefrau ruhig versicherte. Tabletten und Schlaf, dann wird alles wieder gut. Sie ist mit ihrer Enkelin zum Shoppen. Zum Shoppen, kurz nachdem sie erfahren hat, dass ihr Sohn tot aufgefunden wurde. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“
Alex räusperte sich. „Fehlende Mutterliebe macht noch keine Mörderin. Wie sieht es mit den Alibis aus?“
„Zuhause, vor dem Fernseher. Beide. Haben sich einen Tierfilm angesehen.“
„Hätten sie denn ein Motiv, ihren Sohn umzubringen?“
„Nein“, sagte Jan. „Der Bruder ist eine andere Geschichte. Ich meine, er reagierte normal. Es gab eine gewisse emotionale Nähe zwischen den Brüdern. Verbündete von Kindheit an. Nicht direkt brüderliche Liebe, denke ich. Ulrich hatte eher Mitleid, Mathias dagegen wusste alles besser und stand sich manchmal selbst im Weg. Ulrich war der erklärte Liebling der Mutter, erfolgreich und zuverlässig. Trotzdem waren die Brüder keine Rivalen, denke ich. Ulrich bedauert es, nun nicht mehr mit seinem Bruder sprechen zu können.“
„Gab es denn etwas zu klären?“, fragte Alex.
„Er hat nichts erwähnt. Zumindest keinen Streit.“
„Und was ist mit seinem Alibi?“
Alex hörte Jan glucksen. Er grinste. „Lass mich raten: allein, fernsehen.“
Jan lachte. „Scheint eine beliebte Freizeitbeschäftigung zu sein. Aber nein: am Montag war er in seiner Firma.“
Alex hatte das Ortsschild von Rodheim erreicht. „Ok, wir treffen uns morgen früh im Büro. Und dann statten wir der Wohnung von Mathias Bauer einen Besuch ab.“
***
Der Bildschirm des Fernsehers warf flackernde blaue Lichtfetzen auf das Paar, das sich auf dem Sofa räkelte.
Anja strich mit ihren Fingern über Heikos tätowierten rechten Arm. Die verschiedenen Stationen meines Lebens, hatte er ihr mit ernster Miene erklärt, als ob er bereits achtzig Jahre hinter sich hätte und nicht gerade mal Mitte Zwanzig. Ein besonders bunter Frauenkopf hatte ihre Neugier geweckt. Seine Mutter in jungen Jahren, hatte er behauptet. Doch sie glaubte ihm nicht. Sicher war das seine erste Liebe gewesen.
Im Fernsehen lief eine alberne Show, Heiko hatte das vorgeschlagen. Anja hätte lieber eine der Krimiserien in den privaten Sendern angesehen.
„Sie wer'n das mit dem Hacken rauskriegen“, sagte Heiko und zog die Nase hoch. Bei Laura hätte sie sofort mit Schimpfen reagiert, jetzt hob Anja nur den Kopf von Heikos Schulter und sah ihn an.
„Das mit dem Hacken?“
„Ich hatt vor Jahren nen Firmenrechner geknackt und deswegen nen Prozess am Hals.“
Anja setzte sich gerade hin und griff nach ihrem Glas Bier. „Und?“, fragte sie. „Wie ist der ausgegangen?“
„Bin jedenfalls nich in den Bau gewandert.“
Anja nahm einen Schluck.
„Vielleicht finden sie ja auch das mit dem vielen Zaster raus“, sagte Heiko. Er grinste. „Dein Halb-Ex hatte Geld wie Heu und du wusstest es.“
Der Schluck Bier rutschte ihr in die falsche Kehle. Die geballte Faust an ihre Lippen gepresst, hustete sie.
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