„Niemand kann das je vergeben, Gott wird mich strafen, für das, was ich getan habe. Viele Leben sind unglücklich geworden durch das, was ich getan habe. Die Last wiegt so schwer auf meiner Seele, aber ich kann mich nach all den Jahren nicht offenbaren.“ Das Schluchzen der Frau wurde lauter.
Pfarrer Meisner begann zu beten.
Michael Huber schlich weiter durch das Kirchenschiff vorbei am Beichtstuhl, um das Werkzeug, das er dem Pfarrer bringen sollte, vor die Türe zur Sakristei zu legen. Ganz so, wie ihm sein Chef aufgetragen hatte.
Als er vor der Türe der Sakristei stand, wurde der Vorhang des Beichtstuhls bei Seite geschoben.
Michael Huber drehte nicht seinen Kopf in die Richtung, sah aber aus dem Augenwinkel, dass die alte Stuber, die derzeit im Gästehaus Leitner wohnte, heraustrat.
Sie wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen und ging gebückt zum Portal der Kirche, nahm Weihwasser aus dem Becken, bekreuzigte sich und verließ das Gotteshaus.
Die alte Stuber war ihm noch nie geheuer gewesen. Scheinbar war seine Abneigung gegen die Alte, die jedes Jahr hierher kam, nicht ganz unbegründet.
Leider hatte er nicht gehört, um was es genau ging, aber irgendetwas schien sie auf dem Kerbholz zu haben. Wie es für seine Ohren klang, vielleicht sogar etwas Kriminelles.
Er legte das Werkzeug vor die Holztüre und verließ die Kirche. Niemand schien ihn bemerkt zu haben.
Ungern war er hier her gekommen, aber er hatte keine Wahl gehabt.
Umso schneller machte er sich jetzt auf den Heimweg.
Durch diesen Gang in die Kirche hatte er zumindest die letzte Stunde in der Schreinerei gespart, weil er wegen dieses Botendienstes früher gehen durfte.
Es war mittlerweile 19 Uhr, als Ella und Tom aus dem Gästehaus traten und den Weg entlang gingen, der hinunterführte in den Ortskern.
Sie schlenderten Hand in Hand vorbei an einem Steinbrunnen. Um den Brunnen herum schien die Luft braun. Erst als sie näher kamen, erkannte Ella, dass es eine dichte Ansammlung von kleinen Mücken war, die in der Luft tanzten. Sie zog Tom beiseite, damit er nicht in die Mückenflut hineinlief und lachte.
Beide waren wieder fit und mittlerweile sehr hungrig. Links stand freistehend ein weiteres Gästehaus, das aber recht verlassen aussah. Die Sonne war mittlerweile hinter den Bergen verschwunden, so dass Ella froh war, eine Weste übergezogen zu haben. Sie fror ein wenig, weil ihr Körper aufgeheizt war von den hohen Temperaturen am Tag. St. Jakob lag im Tal umgeben von Bergen, die imposant in den Himmel ragten.
Nach etwa 200 Metern standen sie vor der Kirche, die Ella schon vom Balkon aus gesehen hatte. Nach einer kleinen Rechtskurve kamen sie an einem Tabakwarengeschäft vorbei, dahinter ein Schuhgeschäft. Zwei große Schaufenster boten Schuhe feil, die vermutlich selbst Ellas Mutter nicht hätte tragen wollen. Es gab Schuhe, die an Gesundheitsschuhe erinnerten, an Überbeine und Arthrose. Die Schaufenster waren schmutzig, an der Türe baumelte ein Schild mit dem Hinweis, dass der Laden geschlossen war.
Direkt auf der Fassade über den Schaufenstern und der Eingangstür prangte in geschnörkelten Buchstaben Schuhwaren Lercher. Der Zahn der Zeit nagte sowohl an der Auslage des Geschäfts als auch an der Bausubstanz. Einige Buchstaben auf der Fassade waren schon verblichen, das r von Lercher nur noch zu erahnen.
Auf einem kleinen Platz einige Meter weiter befand sich ein großer Supermarkt, eine Bäckerei und ein Café – scheinbar war der Ortskern auf Touristen ausgerichtet neu gestaltet worden. Hier wieder alles wieder zeitgemäß.
Gegenüberliegend begann dann schon die Ortsausgangsstraße, wo sich ein italienisches Restaurant befand und ein paar Schritte weiter eine etwas modernere Kneipe mit Restaurant, vor der eine Terrasse mit Holzbänken prall gefüllt sehr einladend wirkte. Ältere und jüngere Gäste hatten sich dort eingefunden.
Hier war alles lebendiger. Der erste Platz, der sich mit Leben und Lachen füllte. Aus Boxen klang gedämpfte Musik. Ella und Tom zögerten nicht lange und setzten sich an den letzten freien Tisch.
„Das ist ja hier eine richtige Menschenansammlung.“ bemerkte Tom. „Ich habe schon gedacht, wir sind die einzigen Menschen in St. Jakob..“ er grinste „..mit unserer Vermieterin“.
Sie bestellten zwei Bier, bekamen die Speisekarte und streckten ihre Beine unter dem Tisch aus.
„Hier unten scheint es dann wohl belebter zu sein. Wir sind eben mit unserer Unterkunft am Ortsrand im alten ursprünglichen Teil vom Ort gelandet.“ konstatierte Ella, „und eigentlich tut uns das ja auch ganz gut, wir wollten ja auch mal ein bisschen Ruhe genießen – die haben wir jetzt.“
„Das stimmt wohl, vor allem Dir tut mal Ruhe ganz gut. Vielleicht kannst Du so auch mal wieder ein bisschen zur Ruhe kommen. Und wenn wir’s gar nicht mehr aushalten, dann kommen wir hierher.“
Ella nickte. „Ja, hier ist es wirklich nett.“
Die letzten Monate waren nicht leicht gewesen. Das Unternehmen, bei dem sie als Controllerin angestellt war, war angeschlagen durch die Wirtschaftskrise. Zwar las man immer häufiger, es würde wieder bergauf gehen mit der deutschen Wirtschaft, Ella befürchtete aber, dass die große Krise gerade erst begann. Das bedeutete für sie, dass die nächste Zeit nicht weniger aufreibend werden würde, als die letzten Monate.
„Ich habe vorhin noch zwei andere Gäste gesehen, als ich auf dem Balkon saß.“ Begann Ella zu erzählen. „Es war ganz merkwürdig, fast schon ein bisschen unheimlich….“ Ella schilderte Tom die ältere Dame, die sie vorhin beobachtet hatte.
„Also entweder, die ist einfach nur ein bisschen bekloppt oder die Frau ist krank. Kein Mensch verhält sich normalerweise so. Außerdem – alleine schon die Tatsache, dass sie bei diesen Temperaturen heute Nachmittag im Pullover mit Bluse und langer Hose in Zeitlupe so um die Geranien herumgeschlichen ist, ist mir ja schon nicht geheuer. Normal ist das nicht.“
Beide bestellten das Steak und genossen das kalte Bier, das nach der anstrengenden Fahrt noch besser schmeckte als sonst. Als sie beim dritten Bier angelangt waren, hatte ihrer beider Phantasie die tollsten Geschichten um die alte Dame auf dem Balkon zutage gebracht.
Sie steigerten sich in die absurdesten Krimifantasien.
Sie malten sich aus, wie die Frau wahnsinnig wird und ihren Ehemann tötet. Sie sponnen gemeinsam die Geschichte, wie ihr Lieblingskommissar Krassnitzer mit seiner Kollegin auf der Fahrt zu einem Dienstjubiläum einen platten Reifen hat.
Wie die beiden in St. Jakob umherirren und eine Unterkunft suchen, weil die Werkstatt geschlossen ist.
Wie Kommissar Krassnitzer dann den Mordfall aufklären muss, weil der hiesige Polizist von einer Kuh zu Tode getrampelt wurde.
Die Geschichten wurden immer verrückter, inspiriert von unzähligen Krimis und beflügelt vom leckeren naturtrüben Bier.
Sie einigten sich dann schließlich darauf, dass die Frau krank war und ihr Mann ihr zuliebe nach St. Jakob gefahren war, weil sie Geranienliebhaberin war.
Es war schon dunkel, als sie sich schließlich auf den Heimweg machten. Satt und zufrieden bummelten sie zurück zu Ihrer Unterkunft durch den leergefegten Ort. Nur eine kleine Laterne säumte das letzte Stück des Weges vorbei an dem Brunnen die leichte Steigung hinauf.
Das Schloss der Haustüre bereitete Ella ein wenig Probleme, möglicherweise waren aber auch das gute Essen und der Alkohol verantwortlich dafür, dass Tom helfen musste, den Schlüssel umzudrehen. Sie würden gut schlafen, um sich früh morgens auf zu machen zum Großen Leppleskofel auf 2.811 Höhenmetern.
Ella würde morgen das Frühstück auf dem Balkon vorbereiten. Sie liebte es, draußen zu frühstücken. Endlich hatten sie Gelegenheit dazu, denn seitdem ihre Terrasse zu Hause endlich fertig war, hatte sich kein einziger Sommertag gezeigt und so konnten sie zu Hause leider nur hinaus schauen, statt draußen zu frühstücken.
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