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Sie konnte es nicht lassen und fragte bei Kollegen nach, ob es irgendwas Neues im Fall Elena gab, wurde aber immer wieder enttäuscht. Auch Sven ging ihr nicht mehr aus dem Kopf und mehrmals hatte sie den Eindruck, dass sie sein Bild immer wieder sah oder seine Stimme hörte. Mit jemandem darüber reden wollte sie nicht, da sie davon ausging, dass ihr keiner Glauben würde, was sie wiederum verstehen konnte.
Sobald es ihr ein bisschen besser ging, entschloss Mandy, etwas an die frische Luft zu gehen. Wie so oft, wenn sie irgendetwas zu sehr beschäftigte, machte sie sich auf den Weg zu ihrem Platz. Es war eine kleine Lichtung in einem nahegelegenen Wald auf einer Ebene. Einer der Findlinge diente ihr als Sitz und sie genoss die Aussicht über den kleinen See und den angrenzenden, früheren Steinbruch. Da man diesen Tag doch noch als Sommertag bezeichnen konnte, lauschte sie den Bienen und Vögeln, die eifrig umher flogen, summten und zwitscherten.
Die Strahlen wärmten sie, was sie zum träumen anregte und ihre Gedanken drifteten ab, in eine dunkle, aber nicht unangenehme Welt.
Sie befand sich in einem dämmrigen Raum. Um sie herum standen einige Leute, die sie aber nicht bemerkten. Unsicher tastete sie sich vor, bis sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Es war eine bunt gemischte Truppe, Alte, Junge, Jugendliche standen beieinander und unterhielten sich. Die Gespräche gingen über verschiedene Themen. Teilweise wurde diskutiert, woanders geflirtet. Was Mandy allerdings stutzig machte war, das alles seltsam emotionslos schien. Es wurde zwar gelacht, aber sie würde es nicht als ein 'von Herzen' beschreiben, eher aus Höflichkeit. Die ganze Atmosphäre hatte etwas von Anstand und Benehmen. Keiner unterbrach den anderen, man ließ ausreden und es blieb sachlich, so, wie man es aus früheren Zeiten und Filmen kannte. Selbst Leute, bei denen Mandy sicher war, dass man sich nicht ausstehen konnte, blieb alles normal und freundlich. Sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas diese Personen miteinander verband.
Der Schrei eines Bussards holte sie zurück in die Realität. Ihr Blick fiel auf den Steinbruch und sie meinte, eine Person da zu sehen, was doch eher ungewohnt war. Erst beobachtete sie diese noch etwas, aber dann trieb sie eine Innere Kraft an, näher heran zu gehen.
Nach wenigen Minuten erreichte Mandy die ehemalige Einfahrt. In etwas Entfernung parkte ein Kombi, auf dessen Heckscheibe wie bei so vielen anderen Autos auch "Mama's Taxi" aufgeklebt war. Mit einem kleinen Lächeln lief Mandy weiter. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals den alten Bruch betreten zu haben und spontan fiel ihr auch kein Artikel ein, den sie jemals damit in Verbindung gebracht hatte. So ließ sie sich überraschen und von der Neugierde leiten. Vermutlich hatte man hier früher Basalt abgebaut. Vereinzelt lagen Metallteile oder noch gut erhaltene Transportgefährte umher, die bereits dem Rost zum Opfer gefallen waren. Die Büsche, Bäume und herumliegende Steinbrocken machten ein Vorankommen nicht sehr einfach, dennoch kroch Mandy voran. Immer wieder trat sie in Pfützen, die von Fliegen und Mücken belagert waren und den Störenfried mit Flug- und Stechattacken zu vertreiben versuchten. Müll und weiterer Unrat lag verteilt auf dem Boden, bis aus dem kleinen Dschungel ein weniger stark bewachsener Fleck auftauchte. Auf einem Stein entdeckte Mandy die Person, welche sie von ihrem Platz aus beobachtet hatte.
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Bevor sie sich nährte, blieb sie in etwas Entfernung stehen und hielt kurz inne. Bei der Fremden handelte es sich um eine junge Frau, die sehr mitgenommen wirkte und weinte. Bisher schien diese Person sie noch nicht zu bemerken. Erst als Mandy von einem Stein abrutschte, Äste knackten und sie fluchte, wandte sich die sitzende in ihre Richtung.
"Oh, Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken", begann Mandy
"Schon okay.", war die Antwort
Mandy hatte sich mit ihrer Einschätzung nicht getäuscht. Scheinbar trauerte die Fremde.
"Ist alles in Ordnung mit Ihnen?" erkundigte sich Mandy
"Ja, geht schon."
Aber die Journalistin ließ sich nicht täuschen, als sie schließlich erkannte, wer da saß.
"Kann ich Ihnen irgendwie helfen?" Sie versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber ihr schlug nur trauerndes Schweigen entgegen. Schließlich stand sie neben der jungen Frau, die sie mit roten Augen ansah. "Es tut mir Leid", war alles, was Mandy nun hervor brachte. Ihr Gegenüber wandte den Kopf ab und schluchzte leise. "Wenn ich wenigstens Gewissheit hätte. Dann hätte ich einen Ort, an dem ich trauern kann." Jetzt war es Mandy, die erst betreten schwieg, dann aber doch Worte fand: "Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen."
"Bringen Sie mir meinen Jungen zurück oder sagen Sie mir, wo ich ihn finde. Er ist doch alles, was ich habe."
"Wenn ich was wüsste, würde ich Ihnen das sagen. Aber das kann ich leider nicht."
"Ich weiß. Selbst die Polizei weiß nicht mehr weiter. So bleibt mir nur dieser Platz, an dem er immer mit seinen Freunden gespielt hat. Wir wohnen nicht weit weg, so dass er immer hier in den Wald und in den Steinbruch gefahren ist. Abenteuer erleben." Ein schwaches Lächeln zeichnete sich ab.
"Was für Abenteuer denn?", wollte Mandy nun wissen.
"Naja, Schätze suchen, gegen Drachen kämpfen, Buden bauen. Eben das, was sie in dem Alter so machen. Haben Sie Kinder?"
Die direkte Frage überraschte sie. "Nein. Mein Beruf lässt mir dazu keine Zeit. Außerdem fehlt mir der passende Mann."
"Ich verstehe. Ja, die meisten Männer ziehen den Schwanz ein, wenn es ernst wird. Genau wie Svens Vater. Als ich ihm sagte, dass ich schwanger bin, hat er seine Sachen gepackt, ist ausgezogen und zu seiner Ex zurück. Hat mich sitzen lassen und sich der Verantwortung entzogen. Wie sooft."
Für die Journalistin war es nicht neu, aber es war etwas anderes, selbst davon zu hören, als in Unterlagen zu lesen 'Alleinerziehende Mutter'.
"Weiß er davon, dass Sven weg ist?" Vorsichtig tastete sie sich näher an Infos.
"Ich habe versucht, es ihm zu sagen. Alles was ich zu hören bekam: 'Ist doch nicht mein Problem. Du wolltest das Kind. Ich habe damit nichts zu tun.' Dann hat er aufgelegt. Es interessiert ihn kein bisschen. Nicht mal zu seinen Geburtstagen hat sich der Vater gemeldet."
"Zahlt er Unterhalt?"
Esperanza lachte auf: "Wovon denn? Der hat ja nichts. Lebt von dem, was seine Ex verdient. Nein, alles was ich bekomme, ist das vom Jugendamt und das bisschen, was ich als Verkäuferin verdiene. Aber uns fehlt es an nichts. Wir haben ein Dach über den Kopf, haben Essen und er hat Spielzeug. Auch wenn er immer viel lieber draußen war." Sie holte ein Photo hervor, dass den Jungen zeigt. "Das ist mein Engel mit dem Hund unserer Nachbarn." Es war ein Golden Retriever, der vor dem Kind lag und in die Kamera schaute. "Aber warum erzähle ich Ihnen das alles? Ich verschwende ihre Zeit."
"Dafür brauchen Sie sich nicht entschuldigen. Vielleicht, weil sie einfach jemanden zum reden brauchen. Außerdem bin ich krankgeschrieben und würde sonst nur in meiner Wohnung die Zeit absitzen. Mein Name ist übrigens Mandy."
"Esperanza", stellte sich Svens Mutter kurz vor und wischte sich Tränen aus dem Gesicht.
An einer nahen Steinwand lief ein kleiner Vogel entlang, der vor einem Loch stoppte und sich lautstarke schreienden und hervor reckenden Jungvögeln entgegen stand. Der, der am lautesten war, bekam einen Falter in den Schnabel gestopft und schließlich verschwand das Elterntier wieder.
"Glaubst du, er lebt noch?"
Mandy fuhr erschrocken zusammen. "Ich hoffe es."
"Ich nicht. Sein Körper wird irgendwo unter Laub verscharrt sein. Wenn ich nur wüsste, wo."
"Glaub erst daran, wenn du es weißt. Alles andere macht dich nur kaputt."
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