„Also doch kein Gespenst“, stellte Jack fest.
Der Sheriff grinste. „In meinem Wald spukt es nicht, das wüsste ich sonst.“ Er lief um seinen Jeep herum und öffnete die Tür. „Steigen Sie ein! Ich fahre Sie jetzt zu Ihrem Arbeitsplatz.“
Verwundert starrte Jack John an. „Soll ich meinen Wagen hier stehen lassen? Da sind meine ganzen Sachen drin.“
„Also, ich würde das an Ihrer Stelle tun, es sei denn, Sie haben Allradantrieb.“
„Natürlich nicht. Dass ich daran nicht selbst gedacht habe“, scherzte Jack.
„Man kann nicht an alles denken. Lassen Sie den Schlüssel einfach stecken, ich bringe Ihre Sachen später vorbei. In dieser Gegend wird weder geklaut noch kommt irgendetwas weg oder geht verloren.“
„Wenn Sie das sagen. Sie sind hier der Sheriff.“
Dann stiegen sie ein und fuhren los.
Auf dem Weg zum Feuerturm, der genau genommen nur ein schmaler Pfad aus Matsch und Laub war, suchte Jack nach einer Erklärung, was wohl diesen Typ vorhin so in Rage gebracht hatte, als er mit den anderen Dorfbewohnern sprach. Auch die Tochter des früheren Turmwächters wirkte alles andere als lebensfroh. Doch er wurde schnell aus seinen Gedanken gerissen, als er von Weitem die Holz- und Stahlträger eines Turms entdeckte.
„Sehen Sie, es ist ein beschwerlicher Weg, auch wenn wir keine zehn Minuten gefahren sind. Ohne Allradantrieb sind Sie hier verloren und fahren sich fest. Wäre eine ziemliche Maloche, den Wagen aus dem Dreck zu ziehen.“
Jack nickte zustimmend, sagte aber nichts.
„Es wird am Anfang alles ein bisschen komisch sein.“
„Wie weit ist es zu Fuß bis ins Dorf?“, wollte Jack wissen.
„Sie laufen gute fünfzehn Minuten. Es ist nicht weit, aber Sie dürfen nachts den Turm niemals verlassen, Jack.“
Jack sah den Sheriff verwirrt an. „Warum?“
Der Sheriff parkte den Jeep in einer schmalen Linkskurve direkt vor einem der vier Betonpfeiler, die aus dem feuchten Waldboden ragten. Jack konnte durch die Deckenscheibe des Jeeps direkt auf die höchste Plattform des Turms blicken. Beeindruckt von dessen Größe und Höhe sah er wieder den Sheriff an und hoffte auf eine plausible Erklärung.
„Nun, Sie sind jetzt ein Feuerwächter, Jack. Ihr Arbeitsvertrag sieht das so vor. Sie dürfen tagsüber für zwei Stunden den Turm verlassen und zum Abend hin eine Stunde. Außerdem befinden Sie sich hier in einem Jagdgebiet. Viele unserer Bewohner jagen meist nachts. Es wäre wirklich nicht schön, wenn man Sie versehentlich anschießen würde. Ein paar Querschläger gibt es immer, denken Sie daran.“
„Hört sich wirklich gefährlich an. Hoffentlich gibt es da oben eine Toilette.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, Jack, Sie haben da oben mehr Luxus als so mancher Einwohner aus dem Dorf.“
Der Regen von vorletzter Nacht hatte den Waldboden aufgeweicht, sodass die Blätter und Zweige unter Jacks Füßen nachgaben. Der Boden schien wie ein dicker, feuchter Teppich zu sein, und die Schritte der beiden Männer verursachten darauf schmatzende Geräusche.
Nach etwa fünf Schritten blieben sie vor einer Eisentür aus Gitterstäben stehen. Hastig zog der Sheriff einen seiner vielen Schlüssel aus der Tasche seiner Uniform.
„Was Sie hier sehen, Jack, ist einer der größten und ältesten Feuerwachtürme Nordamerikas. Er ist fünfundsechzig Meter hoch und bringt stolze hundertvierzig Tonnen auf die Waage. Man hat diesen Turm vor rund einhundert Jahren gebaut. Er ist also genauso alt wie der Nationalpark, den er beschützt.“
Die Tür war von außen mit einem Vorhängeschloss abgesperrt. Das Schloss war verrostet, mühsam versuchte der Sheriff, einen der Schlüssel hineinzustecken. Mit einem satten Klick sprang es auf, und die Tür ließ sich öffnen. Beeindruckt blickte Jack auf die unendlich vielen Stufen und Treppenabsätze, die zu der höchsten Ebene des Turms führten.
„Leider gibt es keinen Aufzug“, murrte der Sheriff. „Aber Sie sollten als Feuerwehrmann weniger Probleme damit haben. Na ja, ich bin auch nicht mehr der Jüngste, Jack.“
„Wie viele sind es?“
„Müssten um die vierhundert sein.“
„Wie gut, dass ich den Turm nur zweimal am Tag verlassen darf.“
Der Sheriff lachte. „Sie sind echt ein lustiger Kerl, Jack. Das mag ich an Ihnen. Also dann lassen Sie uns mal den Turm hinaufgehen. Passen Sie auf die Stufen auf. Manche sind schon ein bisschen abgenutzt vom Regen. Ein paar Stufen haben wir letzten Frühling ausgewechselt. Es gibt aber immer noch einige, die ziemlich marode sind.“
„Wahnsinn!“, staunte Jack.
Die gesamte Konstruktion war aus Holz. Jede Stufe, jeder Querbalken. Nur der Rahmen war von außen mit Stahlträgern verstärkt worden.
„Ist das nicht alles eine irrsinnige Arbeit, den Turm instand zu halten?“
Schwer atmend blieb der Sheriff auf einem der Treppenabsätze stehen. „Alle vier Jahre schaut der TÜV vorbei, dann wird der Turm generalüberholt. In der Zeit dazwischen muss der Feuerwächter für die notwendigsten Reparaturen sorgen. Sie werden also niemals Langeweile bekommen.“ Keuchend, aber zügig lief der Sheriff weiter.
„So viel zum Bürojob“, flüsterte Jack. Andererseits freute er sich aber auch darauf. Immerhin musste er an manchen Tagen die Zeit totschlagen, da würden ihm kleinere Arbeiten am Turm ganz gelegen kommen. Jack konnte mit dem Tempo des Sheriffs problemlos mithalten, er hatte sogar noch Zeit, sich genauer umzuschauen, während er Stufe für Stufe hinauftrat.
Aus etwa zehn Metern Höhe konnte er bereits über die ersten Baumkronen sehen. Jack freute sich auf einen fantastischen Blick über den gesamten Wald. „Sagen Sie“, fragte er, während er wieder dicht zum Sheriff aufschloss, „warum sind Sie so schlecht auf diese Anstalt zu sprechen?“
Bevor der Sheriff etwas entgegnen konnte, hielt er sich am Geländer fest. Er holte tief Luft und sah dabei nach oben, als wünschte er sich, schon am höchsten Punkt des Turms angekommen zu sein. Doch es lagen noch einige Stufen vor ihnen. „Verstehen Sie mich nicht falsch, Jack“, begann er vorsichtig, „aber wir haben hier etwas gegen Menschen, die unseren Alltag durcheinanderbringen.“
„Wie meinen Sie das?“
Der Sheriff schüttelte den Kopf. „Glauben Sie mir, ich habe mir das Hirn zermartert, seit diese Sache passiert ist.“
Jack konnte ihm nicht folgen, versuchte aber, so zu tun.
„In den letzten paar Monaten sind hier merkwürdige Sachen passiert. Zwei Mädchen aus dieser Anstalt kamen unerwartet zu Tode. Das FBI war hier.“
„Mein Gott“, sagte Jack. „Warum hat das FBI die Anstalt denn nicht dichtgemacht?“
„Nun, weil sie nichts Verdächtiges gefunden haben. Zudem wird diese Anstalt von einer baptistischen Kirchengemeinde geführt. Die haben einen verdammt guten Ruf, und das schon seit Jahren.“
„Woran sind diese Frauen gestorben?“
Der Sheriff, der gerade weitergehen wollte, blieb erneut stehen. „Eigentlich erzähle ich so etwas niemandem. Aber was soll’s, Sie werden es sowieso irgendwann erfahren. Sie wurden beide umgebracht. Aber verstehen Sie mich, ich möchte ungern darüber sprechen. Ich werde Ihnen irgendwann diese Geschichte erzählen, nur nicht heute, Jack. Ich kann Sie aber beruhigen. Beide Morde wurden lückenlos aufgeklärt.“
„Mein Gott.“
Der Sheriff rieb sich die Schweißperlen von der Stirn. „Es ist wirklich schade, dass so etwas ausgerechnet bei uns passieren musste.“ Dann ging er weiter.
Jack blieb für ein paar Sekunden wie erstarrt stehen. Erneut versuchte er, den Sheriff einzuholen. „Kaum zu glauben“, sagte er. „Ich dachte, so etwas kann es nur in der Großstadt geben.“
„Das dachte ich auch einmal“, antwortete John. „Kommen Sie, wir haben es gleich geschafft. Dann kann ich Ihnen mal den Nationalpark von oben zeigen. Sie werden erstaunt sein.“
Читать дальше