Der Mann veränderte seinen Gesichtsausdruck.
„Sie stehen genau vor seinem Haus“, sagte eine Stimme hinter ihm.
Jack drehte sich um und erblickte einen älteren, dafür aber sehr kräftigen Mann. Er trug eine typische Ranger-Uniform. Ein Stern aus feinstem Silber schmückte seine rechte Brusttasche, was ein bisschen etwas vom Wilden Westen hatte, aber verdammt respektvoll wirkte. „Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist John Dung. Ich bin hier der zuständige Sheriff und Bürgermeister. Willkommen im kleinen, beschaulichen Forst und dem dazugehörigen Nationalpark.“
Jack lächelte ihn an. „Jack Miller, Feuerwehr Portland, Oregon City“, stellte er sich vor.
Sie reichten sich die Hand. „Sie müssen unser neuer Mann für den Feuerwachturm sein.“
„Ja, genau.“
„Man hat Sie uns vom Gemeindezentrum empfohlen. Ich hoffe, Sie machen den Job genauso gut wie Ihr Vorgänger.“
„Warum sollte ich es nicht tun?“, fragte Jack.
Der Sheriff antwortete ihm nicht.
„Schönes Dorf haben Sie hier“, bemerkte Jack stattdessen.
Der Sheriff musterte die Gruppe auf der anderen Seite mit einem finsteren Blick. Dann löste sich die Gruppe auf, und jeder von ihnen lief in eine andere Richtung davon.
„Wir sind eine kleine, aber dafür sehr religiöse Gemeinde. Wir haben hier nichts außer dem Wald und den umliegenden Feldern. Die Menschen, die hier leben, meiden den Kontakt zu Fremden. Jeder muss sich hier erst beweisen, bevor er integriert wird. Sind eben alle ein bisschen kleinkariert, aber Sie werden es schon meistern, Jack.“
„Das hoffe ich doch. Wovon leben Sie hier?“
„Hauptsächlich von der Forstwirtschaft, manche jagen auch Wild oder bauen ein bisschen Mais an. Immerhin dürfen wir ein paar Hektar Wald selbst bewirtschaften. Der Rest steht unter Naturschutz und wird von mir persönlich bewacht.“
„Was ist mit der ärztlichen Versorgung oder der Feuerwehr?“
Der Sheriff lachte. „Machen Sie Witze? Das nächste Krankenhaus ist sechs Stunden von hier entfernt. Wenn es brennt, löschen wir das Feuer selbst. Ansonsten muss eben die Flugfeuerwehr kommen. Die geben uns dann aus der Luft Unterstützung. Aber jetzt haben wir ja Sie.“
Jack räusperte sich. „Wird schon schiefgehen, Sheriff.“
„Kommen Sie, ich werde Sie mal durchs Dorf führen.“ Der Sheriff ging voraus, und Jack folgte ihm. „Es tut mir leid, dass ich Sie nur auf diesem Schotterweg herumführen kann, unserer Gemeinde ging aber das Geld aus. Die Folge der letzten Wirtschaftskrise. Wenn es regnet, ist es grauenvoll. Wir haben dann nur Matsch auf den Wegen. Sie sollten hohe und vor allem alte Schuhe tragen.“
„Guter Tipp“, antwortete Jack.
Vereinzelt waren hinter den Häusern Hunde und Hühner zu sehen, die im Schatten der Bäume ruhten. Jedes Haus grenzte dicht an das nächste, viele umkreisten die alte Kirche, die sich in der Mitte befand.
„Sagen Sie“, wollte Jack wissen, „was ist eigentlich mit meinem Vorgänger passiert? Ich hörte, dass er überraschend verstorben ist. Muss ein guter Mann gewesen sein.“
Der Sheriff überging die Frage und zeigte auf ein paar Häuser. „Sehen Sie, Jack, das sind die einzigen Geschäfte, die wir hier haben oder hatten. Dort befindet sich ein kleiner Supermarkt, und in diesem Haus war mal unser Bäcker. Einen Metzger haben wir schon lange nicht mehr, genauso wenig wie einen Friseur. Aber immerhin kommt einer einmal im Monat hier runter und schneidet dann fast dreißig Leuten die Haare.“
„Schwer vorzustellen, dass diese Menschen hier gerne leben. Wandern nicht total viele junge Menschen von hier ab?“
Der Sheriff blickte zu ihm auf, als hätte er nie darüber nachgedacht. „Ja, ein paar. Viele bleiben aber hier und versuchen, sich als Farmer durchzuschlagen. Es ist vielleicht schwer zu verstehen, Jack, aber wenn sie nichts anderes kennen, fällt es ihnen umso schwerer, von hier wegzugehen. Es ist hier zwar einsam, aber auch irgendwie schön. Die Menschen sind einfach und unabhängig. Wir sind eben mehr als nur eine Gemeinde. Wir sind eine Familie. Eine Familie, die an ihrer Tradition festhält.“
„Wie viele gehen und kommen wieder zurück? So Pi mal Daumen?“, fragte Jack.
„Das ist schwer zu sagen. Vielleicht kommen etwa fünfzig Prozent von ihnen zurück.“
„Das hätte ich nicht gedacht.“
Der Sheriff hob die Schultern. „Es ist eben die Ruhe und die Beschaulichkeit. Die Menschen hier lieben das. Rauchen Sie, Jack?“
„Nein.“
„Das ist sehr gut, denn Alkohol und vor allem Zigaretten sind strengstens verboten. Einen Waldbrand können wir uns zurzeit überhaupt nicht leisten, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Ich rauche zum Glück nicht“, sagte Jack. „Warum aber keinen Alkohol?“
„Die Unfallgefahr ist einfach zu groß. Wir können uns hier schwere Verletzungen, die im Alkoholrausch passieren, nicht erlauben. Außerdem hat jemand vor rund zwanzig Jahren betrunken eine Petroleumlampe umgeworfen. Danach standen hundert Hektar Wald in Flammen.“
„Jetzt verstehe ich. Wirklich sehr vorbildlich, Ihre Lebensweise.“
„Das sind eben unsere kleinen Hausregeln. Sie sollten sie unbedingt einhalten, denn die meisten Neuankömmlinge glauben uns nicht, dass wir es ernst meinen, wenn wir sagen, dass wir sie bei Übertretung der Gesetze wieder nach Hause schicken.“
„Haben Sie so schlechte Erfahrungen gemacht, John?“
Der Sheriff nickte. „In den letzten dreißig Jahren als Gesetzeshüter habe ich schon vieles gesehen und erlebt. Und ich musste hart durchgreifen.“
Jack schaute zu einer jungen Frau hinüber, die von ihrer Veranda einen Korb mit Milchflaschen ins Haus tragen wollte und sie beide dabei mit schüchternen Blicken musterte. „Schaffen Sie das?“, rief ihr Jack zu. „Kann ich Ihnen helfen?“
Der Sheriff schaute ihn mürrisch an. Die junge Frau verschwand wieder in ihrem Haus.
„Wie Sie sehen, liegt uns nicht viel an fremder Hilfe, Jack. Es ist die Tochter unseres kürzlich verstorbenen Feuerwächters. Sie ist vor sechs Jahren zu uns gezogen.“
„Eine sehr attraktive junge Frau“, bemerkte Jack.
„Allerdings. Ihr Mann und ihr Sohn verstarben vor zehn Jahren. Sie kam mit ihrem Tod nicht zurecht und suchte einen Ort der Stille und der Einsamkeit. Ihr Vater holte sie nach Forst.“
„Woran verstarben die beiden?“
„Es war ein Autounfall. Sie lebten irgendwo in der Nähe von Portland. Da fällt mir ein, wie war überhaupt Ihre Autofahrt? Hatten Sie eine angenehme Reise?“
Jack zuckte zusammen, versuchte sich aber nichts anmerken zu lassen. „Nun, eigentlich war meine Fahrt recht ruhig und ohne besondere Ereignisse. Manchmal eben ein bisschen langweilig.“
„Das glaube ich.“ Der Sheriff lachte und führte Jack zurück zu seinem Jeep.
„Ich habe unterwegs aber etwas Merkwürdiges erlebt.“
Das Lachen des Sheriffs verschwand. „Was meinen Sie?“
„Mir wäre fast eine junge Frau vor die Motorhaube gelaufen. Sie kam wie aus dem Nichts und verschwand wieder. Ich wäre beinahe gestorben, kann ich Ihnen sagen. Hat mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“
Der Sheriff zögerte einen Moment, dann blieb er stehen und rieb sich die Nase. „Wie sah sie aus?“
Jack versuchte, sich zu erinnern. „Keine Ahnung, ich konnte so schnell gar nicht gucken.“
Der Sheriff blickte Jack tief in die Augen. Dann schaute er zu Boden. „Ich wollte eigentlich nicht darüber sprechen, Jack, aber scheinbar lässt es sich nicht verhindern.“
John hielt einen Moment inne. „Was meinen Sie, Sir?“
„Es gibt ein paar Meilen von hier entfernt eine kleine von Baptisten geführte Anstalt. Dort werden etwa zwanzig an Schizophrenie erkrankte Frauen therapiert. Unser Dorf redet nicht gerne darüber, uns ist diese Einrichtung ein Dorn im Auge. Ab und zu gehen schon mal ein paar der Frauen stiften. Sie sind aber harmlos und friedlich. Eben nur ein bisschen verrückt“, witzelte er.
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