"Schon gut. Habt ihr euren Schneemann gestern Abend noch fertigbekommen?"
"Du hättest ihre Gesichter sehen sollen, als sie nach Hause kamen!" Er lachte und goss mir Tee ein. "Sie kamen kaum durch die Tür. Du musst dir das Ungetüm nachher ansehen, bevor du zum Arzt fährst. Wie geht es dir überhaupt?"
Es hatte sich nichts verändert. Auch durch die Medikamente nicht. Durch so etwas wie innere Ruhe schon gar nicht. Nicht nach dem, was Robin gestern Abend gesagt hatte. Gut, er hatte in der Tat schon früher davon gesprochen, dass ihm die Entscheidung für ein Kind nicht leichtfiel. Dass ihn auch Bedenken beschäftigten. Mit der Betonung auf auch. Vermutlich hatte ich ihn dabei nicht ernst genug genommen, weil es daneben diese andere Seite an ihm gab. Diesen Robin, der sich aktiv daran beteiligte, dass aus meinem intensiven Wunsch eines Tages Wirklichkeit werden sollte, der bewusst das gesamte Programm mit mir gemeinsam durchzog. Auch wenn das für ihn, genauso wie für mich, nicht immer die reine Freude war. Dass er mir jedoch nun, da die Situation so eingetroffen war, wie ich es mir ersehnt hatte, so klar und deutlich seine im Grunde ablehnende Haltung offenbarte, hatte mich wirklich verletzt. Ausgerechnet in diesem Augenblick, in dem die lang erwartete Schwangerschaft aufs Höchste bedroht war und die Sorge darum mich tief bedrückte.
Der Arzt überwies mich in die Klinik. Abortgefahr. Weil Robin zur Schule musste, fuhr unsere Nachbarin Sonja mich hin. Der Professor untersuchte mich. Mit den Händen, denn Ultraschall gehörte damals noch nicht zum Routineprogramm.
"Ganz klar intrauterin. Das behandeln wir konservativ." Was so viel heißen sollte wie: Es sitzt dort, wo es hingehört, in der Gebärmutter. Therapie: Spritzen, Bettruhe und Beobachtung. Fast eine Woche lang.
Robin brachte zu einem seiner Besuche Alexander mit, meinen Geschiedenen. "Wie kommen Sie nur an all diese schönen Männer?", fragte mich eine Krankenschwester anschließend.
Ich reagierte gereizt, beleidigt, spöttisch. "Vielleicht bin ich eine Granate im Bett, wer weiß?"
Mitleidiges Kopfschütteln bei ihr. Ich muss wirklich furchtbar ausgesehen haben in diesem Zustand!
Und dann - Robin saß gerade an meinem Bett und hatte mir eine Palette Fruchtjoghurt mitgebracht, das, worauf ich im Augenblick absoluten Heißhunger hatte - dann ging plötzlich alles sehr schnell. Schneidender Schmerz schien meinen Unterleib zu zerteilen, der Joghurtbecher entglitt meinen Händen, ich krümmte mich, griff mit einem entsetzten Schrei nach meinem Bauch, bekam kaum noch Luft.
"Mein Gott, sie wird leichenblass!", schrie meine Bettnachbarin. "Um Himmels Willen, tun sie doch was! Rufen Sie die Schwester!"
Robin stürzte aus dem Zimmer, kam mit der Schwester zurück. Die sah mich, rannte wieder hinaus und eilte kurz darauf zusammen mit einer Kollegin auf mich zu. Sie lösten die Sperren an meinem Bett, schoben es auf den Flur, zum Fahrstuhl, zwei Etagen abwärts, aus dem Fahrstuhl wieder heraus, hinein in einen anderen Flur. Ich wand mich weiter in meinen Schmerzen. Wurde von ihnen überrollt, zermalmt, aufgefressen. Die Ereignisse überschlugen sich. Ich registrierte kaum mehr, was in dieser rasenden Geschwindigkeit mit mir geschah. Nahm alles um mich herum wie unwirklich wahr. Wie durch bizarr verzerrendes Glas, hinter dem ein Film lief, den ich nicht klar erkennen konnte. Zu schnell alles, zu unfassbar! Über mir rasten die Neonlampen der Deckenbeleuchtung vorbei, Stimmengewirr, Klappern von Metall, Geruch nach Äther, aber alles weit weg.
Eine Nadel in meinem Arm, meine Beine hochgerissen in die Halteschalen. Der Professor vor mir. Ganz weit weg auch, was er zu mir sagte. "Ich steche jetzt den Douglasschen Raum an. Wenn Blut kommt, müssen wir sofort operieren ..."
Ein Gesicht über mir. Bis auf die Augen verdeckt hinter einem Mundschutz. Ein Stich mehr, kaum merklich hinter anderem Schmerz, dann Auflösung der Konturen, wegschwimmen, abtauchen, nichts mehr.
Sie hatten Robin nach Hause schicken wollen, aber er war nicht gegangen. Langsam wurde sein Gesicht neben mir wieder deutlicher. Meinen Bauch beschwerte ein Sandsack.
"Ich hab es verloren, nicht wahr?"
Er nickte und griff nach meiner Hand.
"Du kannst froh sein, dass du noch lebst. In deinem Bauch war schon alles voller Blut. Es saß nicht in der Gebärmutter, es saß im Eileiter. Wenn sie dich erst von zu Hause hätten abholen müssen, hättest du es nicht mehr geschafft. Gut, dass du schon hier warst." Er streichelte meinen Arm und rückte näher an mich heran. "Sei nicht traurig, Schatz, vielleicht war es besser so."
"Ja, vielleicht", sagte ich leise und spürte, wie mir Tränen die Wangen herunterliefen. "Vielleicht war es besser so ..."
Bis zur Zeit der reifen Kirschen hatte ich mein seelisches Tal einigermaßen durchquert. Meine Trauer war nicht völlig weg, doch ich versuchte, damit umzugehen. Immer noch waren da diese leisen, schmerzhaften Stiche, wenn ich bei Freundinnen in den Kinderwagen schauen durfte, wenn ich den Nachbarskindern beim Spielen zuschaute oder ihr Lachen zu mir herüber drang. Doch diese Stiche verloren mit jedem überwundenen, überlebten Monat etwas von ihrem Schmerz, berührten mich nicht mehr in der anfangs so atemberaubenden Intensität.
Robin bemühte sich sehr liebevoll, mir bei meinem inneren Neuaufbau zu helfen. Er zeigte sich in jeder Hinsicht sehr viel sensibler und in seinem Gefühl mir gegenüber zuverlässiger als zuvor. Wir hatten einen neuen Frühling, befreit vom Kinder-Zeugungs-Stress. Ich entspannte mich und genoss es erstaunlicherweise rasch, mein Augenmerk auf andere Dinge als auf meinen Bauch zu lenken. Auch wenn es nicht endgültig geklappt hatte - es war mir zumindest einmal im Leben gelungen, schwanger zu werden. Zumindest im Ansatz eine Bestätigung meiner Weiblichkeit.
Robin wirkte wie von einer schweren Last befreit. Wir stürzten uns gemeinsam mit unseren Doppelhaus-Nachbarn Robert und Sonja und mit einigen anderen Freunden in die politische Arbeit. Gründeten eine Umwelt- und eine Friedensgruppe. Eröffneten einen Dritte-Welt-Laden. Kümmerten uns um die kommunale Politik vor Ort und hetzten von Termin zu Termin. Fanden mit der Zeit immer neue akute Wunden, in die wir unsere Finger legen, für deren Heilung wir uns einsetzen wollten. Lenkten uns durch die Beschäftigung mit Problemen, die über unseren kleinen Beziehungshorizont hinausgriffen, von unseren eigenen Schwierigkeiten ab. Immer noch ein Wegrennen vor dem eigenen Schmerz, aber es wirkte.
Dann gab es kurz hintereinander zwei Ereignisse, die auf längere Sicht Robins und meinem Leben eine völlig neue Richtung geben sollten.
"Ich hab jetzt das Ergebnis der Untersuchung", sagte Robert an diesem sonnigen August-Nachmittag und legte uns den Brief vom Gesundheitsamt auf den Gartentisch. Wir hatten als Umweltgruppe beschlossen, unser Gemüse auf Schadstoffe testen zu lassen. Nicht weit von unserem Haus und seinen beiden Gärten gab es eine Zinkhütte.
Robert war in seinem Schreiben an das Amt als besorgter, naiv fragender Familienvater aufgetreten. Vielleicht lag es daran, dass wir überhaupt eine Antwort bekamen. Wie wir später erfuhren, haben die zuständigen Mitarbeiter wegen ihrer Offenheit ziemlichen Ärger bekommen, denn natürlich sahen wir uns genötigt, die Ergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Dass nichts mehr bedenkenlos zu genießen ist, weiß heute jedes Kindergartenkind. Aber damals, als man rauchende Schornsteine noch als ein Zeichen florierender Wirtschaft bejubelte, als die, die mit dem Finger auf die weniger rosigen Zeichen des Wohlstands zeigten, gern als Nestbeschmutzer ausgegrenzt und der Lüge bezichtigt wurden, war es schon ein Riesenskandal, dass das Untersuchungsergebnis nun – durch unsere Indiskretion - in allen Zeitungen zu lesen war.
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