Wie aus dem Nichts trat Franz plötzlich mit einer Plastiktüte voller Weintriebe zu uns an den Lagerfeuerplatz. Wir hatten sein Kommen in unserer trägen Abwesenheit gar nicht bemerkt, und so räusperte er sich, ehe er fragte, ob er kurz mal stören dürfe.
Sofort machte ich Anstalten, mich aus meinem Liegestuhl zu erheben, doch er meinte, ich solle um Himmels Willen sitzen bleiben, er sei ohnehin – wie besprochen - nur auf dem Sprung. Dann stellte er die Tüte neben meinem Liegestuhl ins Gras. "Das müsste eigentlich reichen. Wenn sie nicht angehen, versuchen wir es einfach noch mal."
Er hob kurz zum Abschied die Hand und war wieder verschwunden. Leonie öffnete blinzelnd die Augen. "War da gerade jemand?"
Ich griff nach der Tüte. "Der Nachbar hat uns Wilden Wein für den Giebel gebracht. Bleib nur liegen, ich werde ihn rasch in die Erde schlämmen, damit er nicht vertrocknet."
Die feuchten Hände wischte ich an der Latzhose ab, ehe ich meinen Stuhl ein wenig weiter in den Schatten zog, das Häkelzeug wieder aus dem Korb nahm und mich setze. Leonie schien eingeschlafen. Franzs Anwesenheit hatte mir die schrecklichen Geschichten des Vormittags zurück gebracht. Mir schwammen immer wieder Bilder von Menschen ohne Beine, toten Nachbarinnen auf Gartenbänken und menschenfressenden Mähdreschern durch den Sinn. Nur schwer konnte ich diese Szenarien abschütteln, und sie beschäftigten mich, während ich in der mir inzwischen zur Gewohnheit gewordenen Geschwindigkeit meine Schlingen in das Garn zog. Die Geräusche aus dem Haus waren verstummt. Robin und Konrad schienen eine Pause eingelegt zu haben.
"Meinst du, du kannst deinen Kummer mit der Kinderlosigkeit hier ein wenig vergessen?", fragte Leonie unvermittelt in die summende Stille und riss mich damit wieder heraus aus meinen unheilvollen Gedanken.
Zu oft hatte ich mich seit Jahren bei ihr ausgeweint, als dass dieses Problem nicht immer noch ein Thema zwischen uns gewesen wäre. So kam ihre Frage für mich nicht sehr überraschend. Ich hielt in meiner Arbeit inne, legte das Häkelzeug in den Schoß, lehnte mich in meinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Zumindest habe ich schon lange nicht mehr darüber nachgedacht."
"Kann es sein, dass dies hier auch wieder ein wenig Flucht in die Aktion ist?"
Ich musste lachen. "Flucht in ein neues Projekt, meinst du?" Ich überlegte einen Augenblick und fragte mich das selbst noch einmal. Auch die politische Arbeit in Erkenschwick hatte von Problemen - wie die Fehlgeburt zum Beispiel - abgelenkt. Probleme, die ich nicht ständig anschauen wollte. "Ja, vielleicht ist es auch eine Flucht. Unter anderem - vielleicht."
"Wovor genau fliehst du, Christine?"
Ich räusperte mich. "Nicht mehr vor der Kinderlosigkeit, denke ich. Aber sicher hat unsere Beziehung sich verändert, und ich bin nicht sicher, ob diese Veränderung mir gefällt. Da ist mit den Jahren zwar ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl gewachsen, aber unser Sexualleben ist nach der Fehlgeburt damals ziemlich müde geworden, muss ich zugeben. Es war in der Zeit davor wahrscheinlich zu sehr 'Arbeit' und zu wenig Vergnügen." Ich konzentrierte mich einen Moment auf mein Häkelmuster, sah dann wieder zu Leonie herüber. "Aber ist der Sex wirklich so wichtig, wenn man sich ansonsten gut versteht?"
"Für mich schon", grinste Leonie.
"Nun ja", ich grinste zurück. "Da ist halt jeder anders."
"Herrje, man hört gar nichts mehr, wo stecken sie nur?" Leonie stand abrupt auf und hielt Ausschau nach den beiden Mädchen.
"Keine Angst", beruhigte ich sie und nahm mein Häkelzeug wieder auf. "Hier werden sie wohl nicht verloren gehen."
"Na, schau mal einer an. Meine Blumenkinder. Die pflücken doch tatsächlich Wiesenblümchen. Selbst die Große. Niedlich." Sie atmete tief ein, lächelte und setzte sich wieder. Währenddessen fischte ich konzentriert nach der Masche, die sich dem Zugriff meiner Nadel hartnäckig verweigern wollte. Nachdem ich das Problem in den Griff bekommen hatte, nahm ich unseren Gesprächsfaden wieder auf. "Natürlich fände ich es schöner, wenn es beim Sex auch zwischen Robin und mir wieder besser klappen würde. Ich erinnere mich gut, dass wir in den ersten Jahren, als ich mir meine Fruchtbarkeit noch nicht beweisen wollte, kaum aus dem Bett kamen. Aber unter diesem entsetzlichen Druck haben wir unsere Lust schlicht und ergreifend tot gebumst."
Tot gebumst. Es traf die Sache auf den Punkt, und ich litt darunter, dass mir Robins Streicheln mittlerweile eher unangenehm war, dass ich sogar davor floh ihm körperlich nah zu sein, weil ich ständig befürchtete, er könnte weiter gehen, als ich bereit war zuzulassen. Auch für mich ein bedrückender Zustand, und ich hoffte, dass es sich wieder ändern würde - irgendwann. Denn ich liebte ihn und konnte mir nicht vorstellen, mit einem anderen Mann zu leben.
"Ich glaube, dass ein Projekt wie dieses unsere Beziehung eher festigen kann." Wieder ein verlegenes Lachen. "Nun ja, sagen wir mal: ich hoffe es. Und was unsere körperliche Flaute anbetrifft ..." Ich machte wieder eine kleine Pause und fühlte mich zurück versetzt in eine dieser Situationen, über die wir gerade redeten. "Sexualität war für mich eine Weile eben nur noch Druck. Aber was sollten wir auch machen? Wir mussten ja den Schlafplan einhalten. Ich hab mich immer schon innerlich zurückgezogen, wenn ich mich in irgendeiner Form unter Druck gesetzt gefühlt habe. Dazu kam, dass mich Robins lustloses Gesicht beim Ausziehen verletzt hat. Sicher konnte ich ihn auch verstehen, denn für mich war es ja ebenfalls Stress. Auch mich hat ja nicht gerade das Verlangen nach erotischen Hochgenüssen auf die Matratze getrieben, doch bis dato hatte ich immer gedacht, Männer können und wollen immer und sind froh über jede Gelegenheit. Das war schon mal eine Fehleinschätzung, und dabei zweifelte ich natürlich heftig an meiner erotischen Ausstrahlung. Schizophren – irgendwie, ich weiß ..."
Sie zuckte mit den Schultern. "Nun ja, bei Pflichtübungen machen auch Männer schon mal schlapp. Aber nun glaubst du, wird es wieder bergauf gehen?"
"Ich weiß nicht. Der Kick der ersten Jahre wird wohl nicht wieder zurück kommen. Doch wo gibt es den schon noch - nach so langer Zeit? Vielleicht haben auch sexuelle Bedürfnisse so etwas wie ein Verfallsdatum - selbst bei Leuten, die keinem Kinderwunsch hinterher hecheln." Ich zwinkerte zu ihr hinüber. "Du bist da anscheinend eine der rühmlichen Ausnahmen."
Sie lächelte, schob sich die Arme hinter den Kopf. "Scheint so. Bei mir ist ohnehin einiges anders gelaufen als bei dir. Ich brauchte die Hose immer nur ans Bett zu hängen, da war's dann auch schon passiert. Peng waren sie da, meine Flower-Power-Damen."
"Nun ja", seufzte ich mit einem Blick hinüber zur Weide, auf der das Löwenzahngelb und das Wiesenschaumkrautweiß nicht weniger zu werden schien, obwohl die Mädchen unermüdlich weiter pflückten. "Ich delegiere das Gebären in Zukunft und lasse es demnächst die Viecher für mich erledigen. Die werden ja wohl hoffentlich nicht die gleichen Schwierigkeiten haben wie ich." Ich strich das Häkelzeug auf meinen Knien glatt. Ja, so langsam konnte man eine Struktur erkennen. Sah schon recht nett aus. "Aber verstehst du", fuhr ich fort, "irgendwo in mir wird wohl diese leise Wehmut darüber bleiben, dass fast alles in der Natur so funktioniert, wie es funktionieren soll. Alles - außer mir. Irgendwie fühle ich mich manchmal, als habe ich als Frau fürchterlich versagt."
"Moment", unterbracht Leonie mich. "Wieso versagt? Von versagen kann man nur sprechen, wenn man einen Verlauf beeinflussen kann, wenn man Möglichkeiten nicht wahrnimmt, wenn man eine Chance hatte nicht zu versagen. Hattest du eine derartige Chance?"
Nachdenklich schüttelte ich den Kopf. "Nein, offenbar nicht. Doch da ist etwas nicht in Ordnung bei mir, verstehst du? Ich fühle mich wie eine Fehlkonstruktion. Ich funktioniere nicht. Nicht so wie du, wie Nele, Lydia, Sonja ..."
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