Als ich zurück kam, standen zwei Fahrräder am Straßenrand. Ich wunderte mich und war neugierig, wer uns in der Einsamkeit besuchen gekommen war. Ich ließ daher die Einkäufe zunächst im Wagen, um nach hinten in den Garten zu gehen und nachzuschauen.
Neben unserem frisch angelegten Gemüsebeet unterhielt Robin sich gut gelaunt mit einem jungen Paar, das sich offenbar interessiert unsere kleinen Kohlpflänzchen zeigen ließ. Die kleinen Hunde tanzten mir freudig japsend entgegen, wuselten mir um die Beine. Robin drehte sich herum und sah mir entgegen.
"Da kommt Christine", sagte er. "Sieh nur, wir haben Besuch. Unsere Nachbarn wollten schauen, was sich bei uns tut." Dann stellte er sie mir vor. "Das ist die Lilo, und das der Franz."
"Unsere nächsten Nachbarn?", fragte ich und schaute mich um. "Wo denn? Norden, Süden, Osten oder Westen?"
"Dort drüben hinter dem Wiechholz." Lilo deutete nach Süden, wo der Wald einen kleinen Schlenker zum Osten hin machte. "Im Winter, wenn die Bäume kein Laub tragen, könnt ihr unsere Dächer durch die Äste schimmern sehen."
"Na ja, ein Kilometer wird wohl zwischen uns liegen", brummte Franz. "Robin hat uns schon erzählt, dass ihr das Stadtleben leid seid. Das hier ist etwas anderes als diese kleinen Parzellen in einer Siedlung, bei denen sich ein Haus an das andere reiht, was? Hier hat man noch genug Platz, um sich aus dem Wege zu gehen, wenn einem danach ist."
"Habt ihr dort hinter dem Wald auch einen Hof?"
"Wir selbst nicht. Er gehört meinen Eltern", sagte Franz. "Wir durften uns auf ihrem Gelände nur ein zusätzliches Häuschen bauen."
"Na ja, und Hof ist vielleicht auch ein bisschen zu viel gesagt", grinste Lilo. "Die Gebäude sehen vielleicht noch danach aus, aber er wird nicht mehr bewirtschaftet. Wir ackern nur noch für den Eigenbedarf."
"Mein Vater ist inzwischen in Rente", verriet uns Franz.
"Wir haben einen riesigen Gemüsegarten. Der macht Arbeit genug", ergänzte Lilo, lächelte mich weiter an und musterte mich sehr genau.
"Ja, es stimmt, was Lilo sagt, Geld verdienen wir nicht mehr mit der Landwirtschaft. Das machen wir inzwischen woanders. Schon lange."
"Gibt es hier überhaupt noch Bauern, die ihr Geld nur mit der Landwirtschaft verdienen?", fragte ich. "Unser Bauer Heinz hat das hier auch nur noch nebenbei gemacht. Eigentlich schade, nicht wahr?"
"Ja, schade", sagte Lilo. "Doch es lohnt sich einfach nicht mehr. Die kleinen Bauern haben heute kaum noch eine Chance. Ein paar Schafe, Enten und Hühner und natürlich Gemüse gibt's bei uns. Eben alles, was man für den Eigenbedarf so braucht - so wie ihr das auch vorhabt. Kommt doch einfach mal vorbei. Ich finde es richtig toll, dass hier endlich Leute in unserem Alter wohnen. So quasi um die Ecke. Eine gute Nachricht nach der schlechten der letzten Woche."
"So? Was gab es denn in der letzten Woche?", wollte ich wissen.
"Da hat sich eine unserer Nachbarbäuerinnen mit einer Flasche Weinbrand und einer Dose E605 auf die Gartenbank gesetzt und umgebracht", erzählte Franz und schaute hinüber zum Wiechholz, streckte seinen Arm in Richtung Westen. "Dort drüben hinter dem Wald. Wenn ihr auf dem anderen Weg, nicht auf dem asphaltierten, Richtung Schale fahrt, passiert ihr noch ein paar Höfe. Auf einem von denen war das."
"Um Gottes Willen!" Mich schauderte bei dem Gedanken. "Weshalb hat sie das denn getan?"
"Niemand weiß es", sagte Lilo, "aber man vermutet, dass sie verzweifelt war, weil ihr Mann eine Freundin hat. Außerdem muss er sie ziemlich schlecht behandelt haben. So erzählt man sich zumindest im Dort. Damit ist sie wohl nicht fertig geworden, hat das Gift genommen und die halbe Flasche Weinbrand in sich hinein geschüttet. Jedenfalls lag beides neben ihrer Bank auf der Wiese, als man sie fand."
Kopfschüttelnd schaute ich in die Richtung, in die Franz gedeutet hatte. Eine schreckliche Nachricht, fand ich, und etwas von diesem unangenehmen Gefühl ergriff wieder Besitz von mir.
"Ach, aber das ist noch nicht alles", schwatzte Lilo munter weiter. "Vor ein paar Wochen ist der Sohn eines anderen Nachbarbauern zwischen die Schaufeln des Mähdreschers geraten. Klar, dass von dem armen Mann nicht viel übrig geblieben ist. Er war gerade fünfunddreißig geworden."
"Und eure Nachbarin dort drüben", ergänzte Franz die Beschreibung des lokalen Schreckens und deutete in die entgegengesetzte Richtung, "hatte gleich zwei Schläge zu verkraften. Zuerst verlor sie ihren Mann. Er ist beim Kirschenpflücken von der Leiter gefallen und war sofort tot. Dabei hat er die Kirschen nicht mal für sich, sondern für Freunde gepflückt. Ja, und kürzlich hat man ihr selbst beide Beine amputiert."
"Himmel, das sind ja entsetzliche Nachrichten! Weshalb hat man das denn gemacht?"
"Zu viel geraucht vermutlich", spekulierte Franz mit angezogenen Schultern. "Sie ist auf jeden Fall operiert worden, und jetzt sind sie weg." Wohl eher aus Verlegenheit grinste er dabei, als sei alles nur ein Scherz.
"Ja, ja. Ist schon eine seltsame Gegend hier", sinnierte Lilo und zeichnete dabei mit dem Schuh kleine Halbkreise in den sandigen Boden. "Man munkelt, direkt unter uns hier", und dabei tippt sie mit der Fußspitze ein paar Mal in den Sand, "gäbe es eine Menge alter Hünengräber. Die Leute im Dorf erzählen wilde Geschichten darüber. Auf alten Karten sind sie sogar zum Teil eingetragen. Dort bei euch auf dem Grundstück zum Beispiel, hinten auf der Wiese", und sie deutet auf die Wiese vor dem Wald, "der große Stein dort, der ein Stück aus dem Boden ragt. Darunter könnte noch eines sein."
Sie musste den Stein meinen, über den ich einige Wochen zuvor fast gestolpert war. "Ein Hünengrab könnte darunter liegen, sagst du? Ach ..." Im Geiste sah ich mich schon auf Schliemanns Spuren mit dem Spaten in der Hand.
"Alles Quatsch. Ammenmärchen. Nichts weiter. Da wollen sich nur einige Leute wichtig tun", fuhr Franz Lilo an und klopfte Robin auf die Schulter. "Schlimm, diese Frauen, was? Immer vermuten sie gleich einen tieferen Sinn oder irgendeinen geheimnisvollen Kram hinter allem."
"Aber es ist wirklich viel passiert hier, das musst du zugeben. Neulich auch in ...."
"Jetzt hör auf damit!" Franz stieß sie mit dem Ellbogen in die Seite. "Sieh dir Christine an. Du machst ihr Angst mit deinem Geschwafel."
Der Gedanke, dass sich alles so nah ereignet hatte, weckte tatsächlich Unbehagen in mir. Robin stand, auf seinen Spaten gestützt, mit der Steilfalte auf der Stirn einfach nur da und wiegte in der für ihn typischen Geste den Kopf.
"Ja, manchmal kann das Leben schon hart sein", meinte Franz und fragte nach unseren weiteren Plänen. Ich war jedoch innerlich noch damit beschäftigt, diese schrecklichen Nachrichten zu verdauen. Konnte nicht so rasch umschalten und tun, als sei dies eben eine ganz normale Unterhaltung gewesen. Irgendwo in mir arbeitete es. Ich schaute mich um. Sah nachdenklich hinüber zur Wiese mit dem Stein, zum Wald, in die Richtung, in der die Nachbarin wohnen musste, der nun die Beine fehlten.
"Wie kann man so weit draußen leben ohne Beine? Wie schafft sie das nur mit der Arbeit? Und dann auch noch ohne Mann?", fragte ich. "Wie kann man ein Stück Land im Rollstuhl bewirtschaften? Das geht doch gar nicht."
"Sie hat einen erwachsenen Sohn", erklärte Lilo. "Der muss jetzt alles machen."
"Da kann sie froh sein, dass sie damit nicht allein ist", murmelte ich.
Robin begann davon zu erzählten, dass wir gedächten, den Kuhstall zu einer zweiten Wohnung auszubauen. Offenbar war auch ihm soviel Tod und Krankheit nicht geheuer. "Die wollen wir dann vermieten, damit hier jemand ist, wenn wir zur Arbeit sind im Ruhrgebiet."
"Habt ihr schon Leute, die bei euch einziehen wollen?"
"Wir werden annoncieren müssen."
"Meine Cousine sucht dringend eine Wohnung", sagte Franz und wechselte schnell den Blick mit Lilo. "Die sucht mit ihrem Mann seit Monaten nach einer neuen Bleibe. Mensch, das hier wäre einfach ideal für die beiden, meinst du nicht auch, Lilo?"
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