1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Robin nickte, warf einen prüfenden Blick über die Tassen und stand auf, um aus der Küche den frisch aufgebrühten Kaffee zu holen.
"Und? Wie fühlt ihr euch jetzt mit dieser Entscheidung?", fragte Lydia mich. "Könnt ihr einfach so weg? Ihr habt hier doch auch eine Menge Arbeit hineingesteckt. Wenn ich mir vorstelle, wie das Haus aussah, bevor ihr hier wohntet."
"Was mir fehlen wird, seid ihr und all die anderen Freunde. Außerdem, noch sind wir nicht versetzt. Es kann unter Umständen Jahre dauern, bis das klappt. Ich hab schon zu Robin gesagt, ich rechne im günstigsten Fall mit fünf Jahren. In der nächsten Zeit wird dieser Hof wohl zu unserem Wochenenddomizil werden."
An der Haustür läutete es.
Robin kam mit dem Kaffee zurück und brachte Pia, Gregor und Bastian mit zu uns heraus auf die Terrasse. Bastian musste sich unter der niedrigen Tür ebenso bücken wie Robin. Sie waren beide etwas zu groß geraten für diesen Durchgang. Bastian war ein hübscher, langer Kerl, und die meisten Single-Frauen unseres Freundeskreises schwärmten heimlich für ihn. Weil sein Gymnasium sich mit meiner Hauptschule den Schulhof teilte, liefen wir während der Pausenaufsicht oft freundschaftlich untergehakt durch die Menge der Schüler, und so blieb es nicht aus, dass sie auch uns deshalb kichernd eine heimliche Affäre unterstellten.
"Ich hab schon gehört, man kann gratulieren", schmunzelte Pias Freund Gregor mich an und drückte mir seinen Begrüßungskuss auf die Wange.
Pia stellte die drei zusätzlichen Kaffeetassen vor uns auf den Tisch und legte eine Tüte mit Kuchenteilchen dazu.
"Hier, falls jemand Lust auf Kuchen hat. Wir sind noch schnell an der Bäckerei vorbeigefahren. Aber ich hab nicht lange Zeit, ich sag es gleich. Zu Hause wartet ein Stapel Aufsätze auf mich. Die liegen schon seit zwei Wochen da. Ich konnte mich einfach noch nicht aufraffen. Aber so langsam werden meine Süßen ungeduldig. Ich hab sie ihnen für Montag versprochen." Dann umarmte sie mich auch. "Hoffentlich habt ihr euch das gut überlegt", sagte sie dabei. "Im Frühling erscheinen manche Dinge schöner, als sie sind."
"Sag ich doch!", rief Mark und war froh, in Pia jemanden gefunden zu haben, der seine Skepsis teilte.
"Sie ist nur neidisch. Ihr müsst das nicht so ernst nehmen", meinte Gregor und schüttete sich und den anderen Kaffee ein. "Wir suchen inzwischen auch ein Haus, in dem wir uns und unsere Möbel zusammenwerfen können. Aber wir haben noch keines gefunden."
"So weit weg aus dem Ruhrgebiet würde ich auch gar nicht wollen. Das platte Land wäre nichts für mich", sagte Pia und erzählte von dem Tanzlehrgang bei Pina Bausch in Köln, zu dem sie sich wieder angemeldet hatte. "Zu solchen Sachen müsste ich dann ja noch weiter fahren. Ich gehe davon aus, dass es dort oben kein anständiges Theater gibt, keine Kinos, keine interessanten Kneipen. Keine Kultur eben. Jedenfalls nichts, was man zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen kann. Ohne solche Dinge würde ich eingehen auf dem Lande. Nur Garten, Viecher, Natur und Einsamkeit. Nicht einmal eine anständige Autobahnanbindung. Nein, das wäre nichts für mich. So was passt besser zu dir, Christine. Robin hat offenbar auch Spaß daran. Aber ich kann mir Gregor zum Beispiel niemals als Gemüsebauern vorstellen."
Mein Einwand, dass Münster nur eine knappe Autostunde entfernt sei, war für sie kein Argument. "Du kannst nicht mal spontan dort einen Altstadtbummel machen. Zumindest darfst du dabei nichts trinken. Du musst anschließend immer wieder in dein Auto."
Nun ja, Robin und ich waren ohnehin nicht die spontanen Kneipengänger. Schon seit einigen Jahren nicht mehr.
Wir mussten den drei Hinzugekommenen noch einmal alles erzählen, jeden Winkel beschreiben, das Ganze schließlich auf ein Blatt Papier zeichnen.
"Und diesen Teil, meint ihr, kann man zu einer Mietwohnung machen?" Dabei tippte Bastian auf den ehemaligen Kuhstall, in dem Auerbachs ihre Ferienzimmer geplant hatten.
"Gleich in den Sommerferien fangen wir damit an", sagte Robin. "So einsam, wie der Hof liegt, muss er bewohnt sein, so lange wir noch nicht versetzt sind."
"Und das kann dauern. Für einen allein ist es ja schon schwer, und ihr seid zu zweit, da doppelt sich das Problem. Gib mir doch bitte mal die Milch, Lydia", sagte Pia, rührte durch ihren Kaffee und wirkte ein wenig gestresst. So sehr ich sie auch mochte, Pia und unser Freund Mark hatten manchmal etwas unangenehm Realistisches, fand ich.
"Was die anderen wohl sagen werden, wenn sie hören, dass ihr tatsächlich fortgeht?", kicherte Lydia und zog den Hals ein wenig ein, als erwarte sie Nackenschläge. "Die rechnen im Grunde doch schon damit, dass ihr euch für den Stadtrat aufstellen lasst."
"Ich weiß", sagte ich, "aber darauf werden wir wohl keine Rücksicht nehmen können. Ich glaube einfach, dass jeder bei sich selbst anfangen muss mit den Veränderungen. Außerdem fühle ich mich nicht abgebrüht genug, um große Kämpfe im Parlament durchzustehen."
Bastian verschluckte sich fast an seinem Kaffee und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
Als unser Besuch wieder gegangen war, setzten Robin und ich uns an unseren Küchentisch, holten einen neuen Bogen Papier heraus und zeichneten unser zukünftiges Gelände noch einmal auf. Unterteilten es in kleine Einzelbereiche, planten die Anlagen des Vorgartens, des Gemüsegartens, überlegten, wie wir die Weiden verteilten und wohin die Teiche gehörten. Das Gebiet hinter dem Schleppdach sollte zur Mietwohnung gehören, ebenso wie der Platz, an dem jetzt noch der alte Schuppen stand, so dass auf die Dauer den Mietern auch ein großes Stück Land zur Verfügung stehen würde. Vielleicht würden sie ebenfalls Vieh halten oder einen Gemüsegarten haben wollen. Auf das Schotterstück zwischen Scheune und ehemaligem Kuhstall würden wir Erde auftragen, um ihnen dort eine Wiese als Sitzplatz und ein Blumenbeet direkt vor der Haustür anzulegen. Mit einem Zaun als Sichtschutz zum Wirtschaftsweg hin vielleicht.
Wir versanken begeistert in unsere zeichnerischen Träumereien, planten, verwarfen wieder, zeichneten neu und ließen uns schließlich doch jede Möglichkeit offen. "Wir werden sehen, was sich vor Ort ergibt."
Wir machten Feuer in unserem Kaminofen, hockten uns davor und spannen die Fäden weiter. Erst sehr spät gingen wir zu Bett, konnten vor Aufregung lange nicht einschlafen. Jeder zeichnete weiter an den inneren Bildern. Konnte nicht loslassen und abschalten. Bis der Schlaf irgendwann doch übermächtig wurde.
In der Nacht saß ich dann plötzlich aufrecht im Bett. Ich war aus einem Alptraum aufgeschreckt. "Robin", flüsterte ich ein paar Mal leise. So lange, bis ich es mir endlich gelungen war, ihn ebenfalls zu wecken.
"Was ist?", flüsterte er durch die Dunkelheit zurück.
"Ich habe Angst!"
"Wovor?"
"Vor allem. Meinst du nicht, wir übernehmen uns?"
Um meinen Brustkorb lag ein Eisenring, und ich spürte, wie mir die Augen feucht wurden. Die bedrohlichen Bilder des Traumes drückten mich noch immer wie eine schwere Last. Standen noch immer vor mir in ihrer erstaunlichen Realität.
Robin richtete sich in seinem Bett etwas auf und streckte einen Arm nach mir aus. "Komm mal rüber, du Hase Cäsar", lachte er leise belustigt, und ich kroch hinüber an seine Brust.
"So kennt man dich ja gar nicht." Beruhigend streichelnd wischte er mir über den Rücken. "Hast du schlecht geträumt?"
"Ich glaube ja." Schluchzend drückte ich mein Gesicht an seines und fühlte mich für den Moment sehr hilflos. Diesen Luxus erlaubte ich mir nicht oft. In der Regel war ich es, die die anderen stützte, ihnen Kraft gab. Immer schon.
"Kannst du dich noch daran erinnern?", fragte er. "Erzähl ihn mir."
"Da war eine Krake. Sie wollte mich ins Meer ziehen. Mit riesigen Fangarmen. Und dann war da ein Berg im Wasser, aber ich kam einfach nicht hinauf. Die Wände waren zu schleimig, zu glitschig. Ich rutschte immer wieder ab und konnte mich nicht retten. Und dann schnappten plötzlich Ratten nach mir. Ein Heer von Ratten im Wasser. Ich habe nie so viele Ratten auf einmal gesehen. Es war furchtbar, Robin."
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