Maxi Hill
Als Merthe schwieg
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Inhaltsverzeichnis
Titel Maxi Hill Als Merthe schwieg Dieses ebook wurde erstellt bei
Toni
Im Dorf
Was ist passiert?
Die Last des gewöhnlichen Lebens
Du bist vom anderen Schlag
Das Leben ist ein mieser Zeitgenosse
Merthe Jacob
Toni und die Dinges des Lebens
Trübe Aussichten und ein Lichtblick
Die Entdeckung
Heiner
Die Liebe einer Mutter
Die Todesnachricht
Neues Leben
Auf der Flucht
Tonis Erinnerung
Das ganz normale Leben
Die Last der Vergangenheit
Merthe schweigt nicht mehr
Das Unvorstellbare
Epilog
Maxi Hill
Impressum neobooks
Der Tag ist noch jung, die Luft ist frisch. Toni legt mehr Kraft in ihre Beine. Die Räder des nagelneuen Sportrades surren, die Kette knackt bei jeder Umdrehung. Der staubige Weg führt durch einen winzigen Ort vorbei an Feldern dem Wald entgegen, wo hinter den hohen Kiefern die kleine Siedlung des größeren Dorfes beginnt, das ihr Leben bedeutet. Diesen Weg hat sie jetzt täglich zu fahren, seit ihre Mutter krank liegt. Doch es macht ihr nichts aus. Sie ist verliebt, das hüpfende Herz vertreibt die Trübsal des Lebens.
»All΄ mein΄ Gedanken, die ich hab«, summt sie vor sich her und tritt vergnügt in die Pedale. Es ist das Lied ihrer Mutter. Manchmal, wenn Merthe glaubt, allein zu sein, singt sie dieses Lied mit dunkler Stimme, aber ihr Gesicht wird dabei hell.
Gleich wird Toni wieder in sanfte Ruhe gleiten, mit der sie daheim ihrer kranken Mutter begegnen muss. Auf einmal hat sie das Gefühl, dass - abgesehen von ihrer jungen Verliebtheit – ihre Verantwortung um Mutters Krankheit das Einzige ist, was sich an ihrem Leben seit neunzehn Jahren grundlegend geändert hat. Ganz heimlich denkt sie sogar, dass sich gar nichts ändern soll. Sie hängt an ihrer Mutter und kann sich nicht vorstellen, einmal im Leben von zu Hause wegzugehen, wo alles vertraut ist und alles beständig.
Noch ahnt sie nicht, dass ihre Sicht auf die Beständigkeit der Dinge durch die Ereignisse der nächsten Stunden – ja durch einen einzigen Satz ihrer Mutter – tief erschütterte wird.
Vor dem Haus in der kleinen Siedlung am Rande des Dorfes stellt sie ihr Fahrrad vor der Haustür ab und nimmt eine Papierrolle vom Gepäckträger. Trotz schwerer Last hüpft sie leichtfüßig die knarrenden Holzstufen hinauf, greift nach dem Schlüssel, der tagsüber immer im Türschloss steckt, und dreht ihn herum. Das blankgeputzte Namensschild wirft etwas von ihrem Lächeln zurück. Es gibt nichts Edleres in diesem Haushalt, als das Schild aus feinem Messing, das den Namen ihres Vaters trägt – Anton Jacob.
Sie kennt ihren Vater nicht, hat ihn nie gesehen. Auch er hat sie nie gesehen. Der Vorteil liegt bei ihr. Sie lebt. Und sie kennt sein Bild an der Wand; sein glattes gescheiteltes Haar, seinen schmalen Mund im kantigen Gesicht. Aber sie weiß nicht, wie er sich anfühlte, wie er roch.
Schon sehr früh hat man ihr beigebracht, dass in die kleinen Wandvasen aus weißem Porzellan und feinem Goldmuster, die es zu beiden Seiten des Bildes gibt, stets frisches Wasser zu füllen ist, damit das Immergrün nicht verwelkt, das nur sommers mit ein paar Blüten ergänzt wird.
Das tun sie seit neunzehn Jahren gemeinsam: Mama, sie und ihre vier Geschwister.
Seit einigen Jahren ist das schwarze Band von der Ecke des Bildes verschwunden, weil die Trauer verblasst ist. Die Erinnerung verblasst nicht, sagt Merthe Jacob.
Kaum ein Tag ist vergangen, an dem Toni Jacob nicht an diesen Mann denken musste, dessen Namen sie trägt. Es führt ja kein Weg vorbei an dem blanken Schild an der Tür, das man aus Prinzip nicht erneuert hat, das samstags mit Sidol blankgeputzt wird. Papa hätte diese Sorgfalt gefallen, sagt Mama von Zeit zu Zeit. Hätte man ihn vergessen, würde man das Schild entfernt haben?
Es gibt so vieles im Leben ihrer Mutter, was sie hartnäckig verdrängt, als ob sie es wirklich vergessen wollte. Nur das Namensschild eines Toten bleibt hartnäckig an seinem Platz, wie ein Hoffnungsknoten im Taschentuch. Vielleicht fehlte nur das Geld für ein neues Schild?
Hier wohnt Merthe Jacob mit ihren fünf vaterlosen Kindern.
Mit einem Schwung wirft sie das Haar aus der Stirn: Jeder Mensch hat einen Vater. Unser Vater lebt nur nicht mehr.
Im düsteren Flur riecht es nach Bohnerwachs. Die Dielen knarren.
Toni lässt die Jacke von den Schultern gleiten, tastet in der Dunkelheit nach dem Kleiderhaken an der hölzernen Garderobe und öffnet die Tür. Das Licht des Tages fällt auf ihr junges Gesicht. Ein Blick in den Spiegel. Das dunkle Haar rasch mit einer Hand geordnet, die Haut geprüft: Alles in Ordnung! Piet hätte seine Freude an ihr. Aber Piet kämpft gegen den Feind, hält den Himmel der kleinen Welt im Blick. Erst am Samstag hat er Ausgang. Gott, wie lang die Tage bis dahin noch sind.
Die breite Küchentür knarrt. Sie tritt über die Schwelle, auf der sie als Kind gestanden und Lieder vorgesungen hat, Gedichte auswendig sprach oder im Türrahmen mit nackten Füßen nach oben gegrätscht ihre Sportlichkeit beweisen durfte.
Mit dem nächsten Schritt ist sie zurück im Bannkreis ihrer Kindheit, wo die Melodie der Armut noch immer von den Wänden tönt.
»Toni, bist du es?« Merthes Stimme klingt gequält.
»Ja ich, Mama.«
»Es hat wohl länger gedauert?«
Toni schaut auf die Zeiger ihrer kleinen Armbanduhr, weil der Wecker nicht auf seinem Platz im Küchenschrank steht. Noch nicht einmal elf Uhr?
Sie hat sich beeilt und eigentlich war sie sehr rasch wieder aus der Firma heraus gewesen, weil man ihr Problem notgedrungen geschluckt hat. Außer einem kurzen Stopp an der Kreuzung war nicht eine Minute unnütz verstrichen. Nicht einmal für viele Worte zu den Kollegen hat sie sich Zeit genommen.
Nur später an der Kreuzung … Die zwei Militärposten haben ihr Russisch ohnehin schlecht verstanden. Keine drei Minuten, schätzt sie.
»Stell dir vor, Mama, an der Kreuzung hinterm Wald stehen seit Tagen zwei junge Russen. Ich glaube, um die kümmert sich keiner.«
Die Tür zum Schlafzimmer ist einen Spalt breit geöffnet, aber Merthe antwortet nicht, gibt nur gequälte Laute von sich. Auf dem runden Tischchen eines Ensembles aus Korbgeflecht, das irgendwer nicht mehr gebraucht und es Merthe geschenkt hatte, steht ein kleines braunes Radio. Telefunken steht in erhabenen Buchstaben darauf, aber Goebbels-Schnauze sagen die Leute aus alter Gewohnheit. Sie dreht am Knopf und tritt erst jetzt durch die Tür. Der erste Blick ihrer Mutter ist vorwurfsvoll, als habe das Kind etwas Entsetzliches getan. Ihr Atem geht schwer.
»Stört dich die Musik, Mama? «
»Nein …«, sagt Merthe, aber Toni spürt, dass der Rest des Satzes in Mutters Kehle stecken bleibt. Toni weiß, wie elend sich ihre Mutter fühlt und sie ahnt: Die Schmerzen sind der Grund für diesen furchtbaren Blick?
Toni streift behutsam unter Merthes Rücken und legt ein Handtuch auf das Kopfkissen. Sachte drückt sie den Körper zurück in die Liegeposition. Merthe bläst schwerem Atem aus ihrer Brust, als könnte sie die Schmerzen einfach wegpusten. Es gibt keine Erklärung für Merthes Leiden. Der Arzt sagt, es könnte das Herz sein und verschreibt Bettruhe und Pectocor-Salbe …
»Was hat dein Chef gesagt?«
»Kein Problem. Solange ich Arbeit für daheim habe, ist es in Ordnung. Ich hatte nur das Gefühl, er glaubt mir die Geschichte nicht. «
»Wenn es eben nicht geht …«
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