Merthe isst nicht viel, nur eben so, dass sie die Mühe der Tochter nicht missachtet. Ganz in Gedanken scheint sie zuweilen gar nichts wahrzunehmen, während Toni hellwach und noch immer lauernd auf jede Geste der Mutter achtet, auch wenn ihre Fürsorge es nicht vermuten lässt. Wäre Toni ein Mensch direkter Fragen, sie würde nicht wortlos registrieren, wie ihre Mutter isst. Die stillen Bewegungen sind gedämpft, ihre Haltung von Schwermut gebeugt. Nur ihre Augen, von Schlupflidern eingeschränkt, sehen munter aus, munterer als den ganzen verteufelten Tag über. Aber dieser Tag ist ja noch nicht zu Ende. Was sie ihrer Meinung nach tun muss, ist noch nicht geschehen.
»Dass du Salami bekommen hast«, sagt Merthe.
Auf einmal hat Toni das Gefühl, in der Haut einer Schlange zu stecken. »Weißt du noch, wie glücklich wir waren, als damals der Russe zu uns gekommen ist, mit den Broten und solcher Wurst?« Sie bereut es sofort. Andererseits hofft sie, irgendetwas könne sich daraus ergeben. Irgendetwas.
Jetzt bin ich nicht besser als andere . Nicht einmal offen zur eigenen Mutter zu sein?
Als hätten sie die Rollen getauscht sagt nun Merthe etwas, was Toni erschreckt.
»Das war etwas anderes als die Muschkoten da unten an der Kreuzung?«
Toni ist, als schrumpfe sie auf ihrem Stuhl zu jenem kleinen Mädchen, das jedes Wort der Mutter befolgte, das stets nach ihrer Hand suchte und nicht einschlafen konnte, wenn Mama nicht in der Nähe war.
»Also wirklich Toni, du solltest dich um die nicht scheren. Die haben so überkluge Vorgesetzte, die sich gefälligst um die jungen Menschen zu kümmern haben. Nicht du! «
Sie starrt ihre Mutter an und erkennt an ihrem Lächeln, dass sie es nur gut mit ihr meinen kann. Nichts sonst. Trotzdem glaubt sie, sie hat durch ihre Erschöpfung am Nachmittag etwas überreagiert und bereut es nun. Und weil sie nicht will, dass ihre Einsicht ins Gegenteil umschlägt und Toni beflügelt, doch noch zu diesen Russen zu fahren, redet sie so über die Vorgesetzte und deren Pflicht.
Leichter ist es dadurch nicht. Schließlich war es Mama, die einen so ärgerlichen Verdacht auf ihr junges Leben geworfen hat, mit dem sie allein nicht umgehen kann.
Sie heftet ihren Blick so stark auf den halb geöffneten Mund, dass Merthe nicht anders kann, als Tonis Hand zu drücken.
Vielleicht ist es die Wärme der mütterlichen Hand, viel sicherer aber überkommt sie jäh die Erinnerung an das Entsetzen in Merthes Augen, das nicht gespielt sein konnte und nicht übertrieben. Es war echt und tief und von purer Verzweiflung. Sie greift nach der Hand ihrer Mutter und drückt sie ebenso, bis der alte Teufel Neugier sein schlaues Spielchen spielt.
»Trotzdem. Du musst etwas ganz Besonderes gewesen sein, wenn ein Besatzer dich … beschenkt. «
Beinahe hätte sie aushält gesagt. Sie beeilt sich zu ergänzen: »Oder war es wegen uns fünf Kinder? «
Merthe schweigt betroffen, Toni schweigt beschämt. Merthes Nachsicht mit jugendlicher Schwäche siegt:
»Du weiß doch nichts. Was wisst ihr überhaupt, ihr Jungen. Euch erzählt man nicht alles. Es waren nicht alle gut, so, wie nicht alle schlecht waren.«
»Dann erzähl mir doch davon.«
Sie schauen sich an, aufrichtig und ohne Misstrauen, und dann erzählt Merthe – langsam und ohne jeden inneren Aufruhr - wie sie seit jeher gewillt war, die Last des gewöhnlichen Lebens zu tagen und plötzlich viele neue Lasten eines ungewöhnlichen Lebens aufgeladen bekommen hatte; aufgeladen von jenen, deren Macht über Leben und Tod entschied. Dass sie nicht die Russen meint, ist Toni klar.
Während Merthe erzählt, dämmert es draußen und Toni sitzt wie gelähmt dabei. Es ist nicht nur das Herz, das sich verkrampft; über die junge Haut hinweg zieht ein Gefühl, als ob der Winter naht.
»Wir haben gewaschen und genäht, Jackensaume verlängert und Uniform-Mäntel gekürzt, wenn sie vom vielen Schleifen im Dreck abgewetzt waren. Wir haben Russenkittel geflickt und Abzeichen getrennt und andere wieder aufgenäht. Da wird man doch einen Lohn annehmen dürfen. «
»Wer ist wir?«
»Else und ich.«
Else ist die Tochter der alten Frau Pohl und nicht halb so rassig, wie Merthe Jacob gewesen war, wenn man den vergilbten Bildern glauben kann. Auch Elses Mann war im Krieg geblieben – vielleicht von russischen Kugeln zerfetzt, wie Anton. Trotzdem galt es auch für sie zu überleben. Sie hatte es leichter, musste nur eine Tochter durchbringen und dabei half auch noch Elses Mutter – die Alte Pohl. Ihre Mama hatte niemanden. Das mit Oma Ida war eine andere Geschichte – eine beschämend andere.
»Tut mir leid Mama, ich wollte nicht … ich meine... nicht, dass du falsch denkst.«
Merthe bewegt den Kopf unbestimmt hin und her. Weder ein Nein noch ein Ja. Weder ein Nachdenken, noch ein Verdrängen. Genau so unbestimmt klingen die Worte, ohne jede Emotion gesprochen, so, als würde Merthe zu sich selbst reden:
»Der Anatoli war ein feiner Mensch. Wenn sie alle so gewesen wären … «
Ihr Blick ist fest auf einen Punkt im Nichts gerichtet, dann steht sie auf, ächzend und ohne die übliche kleine Freude auf das befreiende Bad, das man nicht Bad nennen kann, für das es aber in diesem Haushalt, wie in jedem Haushalt dieses Hauses, kaum eine andere Handhabe gibt.
Die Last des gewöhnlichen Lebens
Wenn es je eine Unbekümmertheit in diesem Hause gegeben hat, dann war es zuallererst Toni, die Kleinste, der man zugestanden hatte, von den Widrigkeiten des Lebens noch keine Notiz zu nehmen. Sie hat nie Ausnahmen beansprucht, doch jetzt in ihrer untrüglichen Ahnung, die Schwelle zum Erwachsensein überschritten zu haben, ist es ihr, als verliere sie gerade, was sie im Grunde doch nie besessen hat - Sorglosigkeit.
Sie läuft zum Schuppen und schaut über den Wäscheplan auf die offenen Fenster der Siedlungshäuser, hinter denen die Leute den Sonntag begehen.
Am Vortag hatte man die Alte Pohl begraben und über Nacht war die Betrübnis der letzten Tage aus der Siedlung wie weggeblasen. Am offenen Fenster spielte Paul Gruhl zum ersten Mal wieder besonders laut und besonders lange auf seiner Harmonika, weil sein Spiel einige Tage lang der Pietät hat weichen müssen. In dieser Gemeinschaft bedeutet sie den Menschen noch etwas. Nebenan hackt einer Holz zu passgerechten Scheiten. Kurt Vorbeck, ein sehr einfacher und ebenso fleißiger Mann. Weil er selbst das K nicht sprechen kann, nennen ihn alle »Turtel«.
Toni blinzelt in die Sonne. Nur wenige Wolkenfetzen treiben am Himmel und dazwischen kreisen die Segler von Klix mit ihren federleichten Gleitern.
Kurt Vorbecks Nachbar ist unter den Seglern. Zu diesem Mann schauen die Leute auf, selbst wenn er unter ihnen weilt und nicht lautlos am Himmel schwebt. Dabei ist der nicht halb so fleißig wie Kurt Vorbeck und lässt gerade wegen der Fliegerei seine Familie viel zu oft allein.
Zum ersten Mal seit langem hat sie das Gefühl, seine verstockte Frau verstehen zu können. Einsam heißt nicht, allein zu sein. Einsam ist man im Kopf, so, wie diese junge Frau trotz ihrer beiden Kinder wohl ziemlich einsam ist, und so, wie Toni in diesem Moment einsam ist. Piet ist nicht gekommen, stattdessen Egon mit dem Lastwagen vom Armeestützpunkt. Heimlich. Für Piet, wie er meint.
Drei Wochen Ausgangssperre.
Einer von den Obersten des kleinen Postens hatte beim letzten Ausgang Piet mit Toni gesehen, als sie fern ab vom Dorf über die Wiesen spazierten. Piet trug keine Uniform. Er hasst sie geradezu. Und die Kleidung von Heiner passt ihm und hat der Sicherheit des Staates nicht geschadet, aber Gehorsam ersetzt des Soldaten Logik. Piet hat den Befehl nicht befolgt.
Der Tag mit ihrem Liebsten hätte so schön werden können. Nun ist er angefüllt mit allerlei Vorbereitungen für den großen Waschtag.
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