So wie sie mit den Wäschestücken kämpft, die in der richtigen Richtung aufgehängt werden müssen, damit der Wind durch die Knopfleiste in das Innere blasen kann und die Kissen aufbläht, als würden sie noch mit Daunen gefüllt sein, so glüht Tonis Gemüt. Warum mochte Frau Thierse sie bisher nie leiden? Und warum heute?
Sie läuft zur Hauswand und greift eine Stütze, die sie keuchend mittig der Leine platzieren muss, damit die langen Laken nicht auf der Wiese schleifen. In ihrer Schürze die Schokolade stört, und wenn sie ehrlich ist, stört es sie noch mehr, dass sie nicht hinter Thierses Beweggrund kommt.
Mit der Kraft, die sie braucht, um die Leine mit der feuchten Wäsche mit starkem Ruck anzuheben, denkt sie daran, was ihre Mutter manchmal sagt:
Liebe dich selbst, dann können die Anderen dich gern haben.
An dem Tag hat sie den Sinn dieser Worte endlich begriffen.
Toni hat gar nicht gemerkt, dass längst Mittag vorbei ist. Ein Großteil der Wäsche flattert im Wind und die ersten Waschzuber stehen zum Trocknen hochkant an den Wäschepfählen auf der Wiese, so wie es Brauch ist, und wie sie es selbst nicht verstanden hat, wenn es die Frauen früher so hielten. Jetzt versteht sie es noch immer nicht, aber Mama wird es gefallen.
Die steht im Bademantel am offenen Fenster und schaut herunter. Immer, wenn Mama ans Fenster tritt, muss sie niesen. Das war schon früher so, als sie noch Kinder waren und auf der Wiese spielten. Ohne sie zu sehen, wussten die Kinder Bescheid.
Heute sagt sie mit ziemlich leiser Stimme für diese Entfernung: »Die Suppe ist warm.« Es klingt gepresst, als habe sie etwas zu verbergen. Vielleicht hütet sie sich vor dem Eindruck, sie sei in Wahrheit gesund und drücke sich nur vor der Arbeit.
Toni ist zuerst froh, ihre Mutter am Fenster zu sehen, dann aber wieder nicht. Das schlechte Gewissen, der Hunger könnte sie aus dem Bett getrieben haben, schleicht sich ein.
Die ersten Wäschestücke sind trocken und gehörten abgenommen, und gleich mit nach oben genommen zu werden. Ihrer Mutter wird sie verbieten müssen, die abgenommene Wäsche anzurühren. Sie wird es nicht lassen können, sie glatt zu legen, so, wie es für die Mangel erforderlich ist.
Merthe Jacob hat ein größeres Problem damit, dass Toni auch die Wäscherolle allein bewältigen muss. Aber es muss ein.
»Du sollst doch nichts machen …«, ruft sie scheinbar gedankenlos nach oben, doch auch ihre Worte sind nichts als Rechtfertigung vor unsichtbaren Ohren. »Ich komme gleich. Drei Minuten noch.«
Das Wetter hält, ihre Laune ist gut, ein wenig Stolz liegt in ihr und sie denkt, dass diese Plage das unabänderliche Los einer Hausfrau ist. Wie ist nur Mama allein mit all der Mühe fertig geworden, als wir noch Kinder waren?
Das sind die Fragen einer Heranwachsenden. Doch noch am selben Tag wird es eine neue Frage geben, eine, für die eine Antwort nur mühsam zu finden sein wird.
Es ist schon dunkel, kaum ein Licht gibt es hier draußen vor den Häusern. Nur oben an der Straßenecke eine einzige Laterne. Peer vom Nachbarhaus kommt mit dem Rad angebraust.
»Du bist ja noch nicht fertig«, sagt er.
»Und wenn ich eben erst anfange?«, kokettiert sie.
»Du schinderst schon seit gestern herum, sagt Oma.«
»Deine Oma hat heute einen verdammt guten Tag.« Toni stellt die Kiepe zu ihren Füßen ab, dass das Weidengeflecht knarrt.
»Da bin ich aber anderer Meinung«, grinst Peer, doch es klingt nicht freundlich.
»Wenn man Schokolade von jemandem bekommt, obwohl der keinen guten Tag hat, muss etwas Besonderes passiert sein.«
»Ach so«, sagt Peer gedehnt. »Oma meint, sie hätte dir das gar nicht zugetraut, das mit der vielen Wäsche und so ... Zu Opa hat sie gesagt, du bist eben doch von einem anderen Schlag.«
»Ich weiß, dass deine Alten mich nicht mögen. Grad darum wundert mich die Schokolade.«
Peer fummelt plötzlich am Pedal herum. Die nächsten Worte presset er heraus: »Opa sagt eigentlich nie etwas über euch. Aber Oma …Na ja, wegen dem Holland. « Beim Reden drückt er den Dynamo vom Rad, der noch eben ganz passabel gesurrt hatte.
Der Fluch des Lebens erwischt einen immer, wenn es einen gerade mal richtig gut zumute ist. Nicht im Körper, aber im Geist ist sie den ganzen Tag über rundum mit sich zufrieden gewesen. Nun bringt es ein einziges Wort fertig, sie wieder nachdenklich zu machen.
»Was hat denn Herr Holland mit mir zu tun? «
»Mit … deiner Mutter …«
Es ist schon duster, aber sie merkt, irgendetwas hat sich verändert in Peers Gesicht.
Licht fällt aus dem Zimmer der verstorbenen Frau Pohl, wo Tochter Else mit dem Umräumen beginnt. Peers Lippen ziehen sich schräg, seine Hand wischt fahrig durchs Haar, dann fährt er weiter …
Du bist vom anderen Schlag
Den ganzen Abend kann sie an nichts anderes denken, als an den guten Herrn Holland, der mit seiner gelähmten Frau vom Schicksal hart geschlagen ist. Zwei Söhne versorgt er allein. Einen von denen mag sie ganz gut leiden. Dieser Herr Holland war trotz eigener Not manchmal sogar ihrer Mutter noch zur Seite gegangen, wenn im Garten die Frühjahrsbestellung begann. Damals hatten sie noch einen Garten, der inzwischen den neuen Häusern der Mietergemeinschaft weichen musste.
Ob Mama mit diesem Herrn Holland …? Sie atmet tief und wirft ihren Kopf in den Nacken: Kein Gedanke. Mama doch nicht.
Was in den Jahren in ihrer Familie geschehen ist, hat sie zu jeder Zeit für gut und richtig gehalten. Alles, was eine Mutter macht, ist gut und richtig. Warum sollte ihre der armen gelähmten Frau den Mann ausspannen?
Aber wenn es anders war? Merthe Jacob war eine Schönheit, die nur aus Sorge und Plage ihren Glanz verloren hat. Und wenn ein Mann mit seiner Frau nicht mehr zärtlich sein kann, weil sie mit glasigen Gliedern daliegt, vielleicht sogar bärbeißig ist in ihrem Leid und nur noch Sinn für den Pastor hat, der mehrmals in der Woche zum Gebet ins Haus der Familie kommt. Wenn dieser Mann die junge Schönheit Merthe begehrt, die selber vom Schicksal gezeichnet ist, welches Recht hat eine Tochter, das zu verurteilen?
Viel tiefer sitzt der Satz vom anderen Schlag , den die Thierses bedenkenlos in den Mund nehmen darf, was Toni für sehr lästig hält: Was heißt das, ich bin vielleicht doch von ganz anderem Schlag? Geht das vielleicht mit Mamas Groll auf die Russen zusammen?
Erst mitten in der Nacht und nach einem unguten Traum erfasst sie Unruhe. Ein unsäglicher Gedanke kommt wie aus dem Nichts:
Ich bin vom anderen Schlage. Ich bin das Kind eines Fremden, nicht das von Anton? Kann ich deshalb für meinen Vater keine innige Liebe empfinden? Ich kenne ihn ja nicht einmal – bin später geboren als Vater gefallen ist. Vielleicht hat jemand die Zeiten geschönt …?
Bin ich vielleicht das Kind eines Russen? Die Tochter von diesem lächelnden Anatoli mit der Salami? Warum hat man mich Toni getauft? Warum nicht Antonia, wenn ich die Tochter von Anton bin. Antonia ist kein schlechter Name.Anton: Toni? Anatoli: Toni? Sie spitzt ihre Lippen und formt ganz leise und mit kaum einem Hauch, der ihr dabei entweicht: Anton –Toni; Anatoli – Toni?
Neben ihr liegt Merthe still in den Federn. Sie rührt sich nicht in dieser Nacht und Toni rührt sich nicht. Sie krümmt den geschwächten Körper unter der Decke und weint in die Kissen. Sie war nie sehr stark, aber bisher von guten und freien Gedanken beseelt. Jetzt ist ihr, als sei sie vom hellen Licht einer reinen Kindheit gerade in ein dunkles Verlies gestoßen worden, aus dem sie keinen Ausweg sieht. Wie kann sie einen so bösen Verdacht an ihrer guten Mutter zulassen?
Die Nacht ist so tiefschwarz, dass die Fenster den Schimmer des Himmels verlieren. Sie ist froh, die Wäsche unter Dach und Fach zu wissen, dennoch kämpft sie gegen eine neue Plage, die Plage der Seele. Sie steckt den Kopf unter der Decke hervor, macht ihren Körper lang und lauscht in die Nacht. Blitze zucken und geben dem Zimmer für Sekunden die triste Kontur zurück, die das Zimmer wieder vertraut machen. Das Grollen des Donners lässt nicht lange auf sich warten und Toni weiß, jetzt wird der Schlaf noch warten müssen.
Читать дальше