Im nahen Wald hat sie oft gespielt, wenn auch oft mutterseelenallein. Jetzt ist ein Stück von diesem Wald einem Holzplatz gewichen und man kann vom Fenster aus bis auf die Straße blicken. Der Holzplatz gibt vier kräftigen Männern Arbeit und Brot. Erik, der Mann von der ältesten Schwester Inga, ist unter ihnen.
Im kleinen Wäldchen am Weg gleich links neben der Kurve, sind die Waldarbeiter gerade am Werke. Mit entblößten Oberkörpern ziehen sie die Schabeisen über die Rinde der abgeholzten Baumstämme. Erik ist ein gut gebauter Mann mit kräftigen Muskeln und starkem Haar. Ein Umsiedler aus Pommern, wie es viele hier gibt. Stur sollen sie sein, wie man sagt. Erik ist gutmütig, wenn auch nicht mit großer Redseligkeit gesegnet. Als Toni noch klein war, ist Erik mit ihr auf der Querstange seines klapprigen Fahrrades über die Dörfer gefahren. Daran erinnert sie sich noch gut.
Erik sieht Toni, schickt einen kurzen Blick zu ihr und gibt mit der Hand ein Zeichen, gerade so, dass es keiner der Kollegen sieht, aber klar genug für Toni.
Sie muss gleich noch den Kastenwagen aus dem Schuppen holen und die Rinde einsammeln, bevor ein anderer von dem unverhofften Segen Wind bekommt. Unter dem Waschkessel muss es ein prasselndes Feuer geben.
Merthe Jacob war wie immer weitsichtig gewesen, statt eines Leiterwagens diesen Kastenwagen anzuschaffen. Alles kann man mit einem solchen Gefährt transportieren; Holzscheite und Einkellerungskartoffeln, Knickholz und Kiefernzapfen aus dem Wald. Schiebt man die Vorder- und die Rückseite des Kastens aus der Führung, kann auch Längeres bestens verstaut werden.
»Es hat lange gedauert. Waren viele Leute da?«, quetscht Merthe heraus, als sie Toni kommen hört.
»Nein. Schöne Grüße von Frau Gerbus und gute Besserung. Ich musste ein bisschen warten; ich habe noch die Einkellerungskartoffeln bestellt …«
»Mein je … wie viel Zentner hast du bestellt …ich habe nicht daran gedacht, mein je…«
»So viel, wie uns zusteht, Mama. Die Liste musste erst gesucht werden … war aber vorhanden. Heiner steht noch mit drauf. «
Merthe sagt nichts. Die stoßweise Luft ist Antwort und Dank zugleich.
»Brauchst du noch etwas«, fragt Toni. »Soll ich dich noch einsalben? «
Auf dem Nachttisch liegt ein Schächtelchen mit Tabletten. Merthe hatte es wohl rasch unter das Deckchen geschoben . …mit Belladonna - das kann Toni erkennen. Also sind es die extra starken Tabletten, die sie nur nehmen soll, wenn sie die Schmerzen nicht mehr aushält.
»Nein, ich bin müde. «
»Schlaf nur. Ich störe dich nicht, muss noch mal weg. Auf Merka zu wird Kiefernrinde geschabt. Wenn die Beerdigung vorbei ist, können wir am Montag endlich ins Waschhaus. «
Die alte Frau Pohl hatte die Augen für immer zugemacht und es ist üblich, die Toten in ihren Särgen bis zur Beerdigung in der kühlen Waschküche aufzubahren. Der Gedanke, als Erste danach das Waschhaus zu benutzen, fällt Toni nicht leicht, aber der Wäscheberg ist bald nicht mehr zu bewältigen.
Toni mochte die Alte nie. Fürchtete sich gar als Kind vor ihr. Im dicken, großporigen Gesicht funkelten bösartige Augen, vom Kinn wuchsen Barthaare zentimeterlang, und an einer Hand fehlten zwei Finger. Man sagte, die habe sie beim Klauen eingebüßt. Schwer zu glauben, denn ihre mit Binden umwickelten Beinen gingen schleppend in stets in abgewetzten Pantoffeln. Dazu krümmte sich ihr Leib und sie stützte sich auf einen Stock. Flink war sie nur, wenn es etwas in Haus und Hof zu kontrollieren gab. Aber nun hat der Tod die Alte Pohl samt ihrer Neugier besiegt.
In solchen Augenblicken ist man empfindlich und versöhnlich zugleich. Die alte Frau hat ihr nichts getan und Toni fällt der Spruch ihrer Mutter wieder ein: Jeder Mensch ist gut, man muss ihn nur gut sein lassen.
Sie hat ihr diesen Spruch immer geglaubt, doch nun ist sein Sinn ins Wanken geraten. Ihre Mutter wäre die Letzte gewesen, die jenem Menschen die Chance zum gut Sein genommen hätte, an den sie womöglich noch immer mit Schrecken denkt. Warum war dieser Mensch nicht gut? Und womit war er nicht gut? Und warum lässt sie mich nicht gut sein zu denen da im freien Feld?
Der Kastenwagen holpert über die steinige Straße. Gerade hat der Abendzug von Bautzen nach Weißenberg Einfahrt bekommen. Er pfeift, wenn er das Signal passiert und Toni hüpft rasch noch über die unbeschrankten Schienen. Der Weichensteller hebt einen Finger zur Warnung. Sie kennt diesen Mann. Mit seiner kindischen Tochter hatte sie sich mangels anderer Mädchen ihres Alters lange Zeit in der Siedlung herumgetrieben. Zu Hause war kein Platz, nicht für fremde Kinder und nicht zum Spielen. Ein anderes Mädchen aus ihrer Klasse wohnte auch in der Nähe. Helgard. Sie durfte nicht mit Toni spielen. Sie kam aus dem Hause des einzigen Bauunternehmers der Region und man achtete drauf, mit wem sie Umgang hatte. Für den weiten Weg zur Schule allerdings schien Toni überaus geeignet, Helgard zu begleiten.
Gedankenschwer schaut sie dem Zug nach, der auf den alten Schienen wankend in den Bahnhof einfährt. Eine unbekannte Sehnsucht erfasst sie. Reisen. Irgendwohin. Mit Piet.
Diese Glut in ihr, diese zehrende Ungeduld auf den Samstag und auf Piet lässt sie die Plage vergessen, die ihr die schwere Last der Wagenladung über Stock und Stein bereitet.
Nach einer Stunde, mit zerkratzten Armen, zerschundenen Waden und lahm im Rücken, nimmt sie die letzten Meter mit schweren Schritten zurück bis zum kleinen Verschlag neben dem Schuppen am Haus. Der Tag war kein leichter, aber sie fühlt deutlich, wie gut sie daran getan hatte, auch das noch zu bewältigen, so, wie Mama das ganze Leben allein zu bewältigen hatte, was sich in andern Familien Mutter und Vater teilen.
Um Vertrauen zu finden, muss man miteinander reden. Aber Merthe braucht ebenso Ruhe wie Zuwendung.
Toni ist in einen Zustand des ständigen Grübelns geraten. Wo ist sie nur hin, ihre kindliche Unbefangenheit, ihr gewöhnliches Frohlocken, wenn sie etwas besonders gut, besonders akkurat und zur Freude ihrer Mutter erledigt hatte. Immer drängender wird ihre Neugier, die eigentlich Sorge heißen sollte. Immer konkreter formulieren sich Fragen, die nicht an die Oberfläche drücken, weil die Empfänger-Membran kurz vor dem Bersten ist. Irgendwann weiß sie, ihre Sorge ist nichts weiter als Furcht. Furcht vor dem Wissen. Furcht davor, nicht angemessen auf das Wissen reagieren zu können? Ihr ist, als würde die Vorstellung, die ihr keine Ruhe lässt, langsam alles Bisherige überwuchern.
Toni spürt die Qual des Tages nicht, nur die Scham für die unguten Gedanken, die sie gottlob noch auf der Zunge zerbissen hat.
Verflucht seien die Soldaten, die nicht dorthin gehören, weil doch kein Krieg mehr ist. Und verflucht sei jeder Tag, der sie auf ’s Fahrrad gezwungen hat. Jetzt kommt ein Leuchten in ihren Sinn: Es hat alles so sein sollen, genauso. Irgendjemand hat alles so zusammengefügt, wie es jetzt ist. Irgendjemand. Dass es nicht der liebe Gott war, ist klar. Wer oder was ist es? Schicksal?
Zum Abendbrot steigt Merthe aus dem Bett. Sie wolle mal wieder richtig am Tisch sitzen und etwas Kräftiges essen und danach wolle sie sich in eine Schüssel stellen und von Kopf bis Fuß abseifen.
Im Herd ist noch Glut, und Toni legt zwei Briketts nach, die in der Herdhöhle liegen. Sie füllt den großen Einkochtopf halb voll mit Wasser. In der eingebauten Wasserpfanne ist immer warmes Brauchwasser zur Hand, solange der Herd in der Wohnung unter Feuer steht. Aber Merthe liebt es, viel Wasser zu benutzen.
Eigentlich wollte Toni Eierplinse backen, aber nun, da sich eine ganz gewisse Gelegenheit bietet, entscheidet sie sich anders. Es hatte Salami gegeben beim Fleischer Donath. Keine echte, wie man weiß, aber hierzulande nennt man sie dennoch Salami. Frau Domsch von der Wohnung im Parterre direkt unter ihnen hatte frischen grünen Blattsalat bei sich und Toni vor der Haustür verschämt einen Kopf zugesteckt. Den bereitet sie flugs nach dem Rezept zu, wie Merthe ihn mag. Essig und Zucker und zu guter Letzt mit einem Schuss brauner Butter überzogen.
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