»Das war wirklich gut, aber es ist zu viel«, hört sie ihre Mutter wie von fern. Nachdem Merthe noch rasch einen Löffel Brei zwischen ihre Lippen schiebt, sagt sie: »Heb es auf, ich esse den Rest am Abend.«
Solange sie denken kann - und noch Jahre später wird sie so denken - war es nur das eine, was sie an ihrer Mutter nie leiden konnte: Mit vollem Mund zu sprechen.
Toni nimmt die Schale von Mutters Schoß, faltet das Tuch zusammen, das sie über die Bettdecke gebreitet hat, und zieht das dicke Stützkissen hinter dem Rücken hervor.
»Das musst du nicht mehr essen. Ich bringe etwas Frisches mit. Ich muss nachher noch mal hoch ins Dorf.«
»Hetzt dich nicht immer so ab … oder musst du … wegen der Arbeit?«
»Nein Mama. Ich muss einkaufen. Wir brauchen Marmelade und Margarine, und das Waschpulver für die große Wäsche muss auch noch her. Vielleicht gibt es ja noch frisches Gemüse ...«
Der Blick zur Uhr sagt ihr längst, dass genau diese Hoffnung illusorisch ist. Heute hat sie noch einen anderen Gedanken in ihrem Kopf, bei dem der Teller in ihrer Hand einen übermütigen Bogen nimmt. »Und ich will für die armen Kerle an der Kreuzung Limonade kaufen und Russischbrot. «
Ein kleines Jauchzen kommt aus der jungen Kehle. Natürlich weiß sie nicht, ob das Russischbrot wirklich etwas mit den Russen zu tun hat, aber der Einfall ist amüsant und der ist ihr die paar Groschen wert.
»Meinst du diese … diese Russen?«, sagt Merthe entsetzlich verzerrt.
An der Tür bleibt Toni stehen und dreht ihr Gesicht noch einmal verschmitzt zurück: »Ja. Die Freunde haben mal wieder Manöver. «
Sie hatte vom ersten Moment an einen kleinen Triumph gefühlt, als sie diesen Einfall hatte, und sie hat ihren Plan mit so leichtem Herzen ausgesprochen, dass ihr jetzt keine Idee dafür kommt, was Merthe in so schreckliche Unruhe treibt.
»Untersteh dich nicht, noch ein einziges Mal dorthin zu gehen!«
Ohne jede Hilfe sitzt Merthe plötzlich aufrecht im Bett. Äußerlich sind es nur zornige Augen, die erst langsam quälende Sorge spiegeln. Es ist wie ein schwerer Klumpen, der auf Merthes Brust liegt, der nichts mit den Schmerzen zu tun hat, die sie ans Bett fesseln. Dieser Klumpen steckt tief und ist in jahrelanger Angst verhärtet. Dieser Klumpen sitzt auf der Seele. Er bewegt sich nicht mehr und drückt doch wieder an der empfindlichen Oberfläche eines alten Zornes, den Merthe nie ausgelebt hat, so, wie sie ihren seelischen Schmerz um Anton sich nie auszuleben erlaubt hat.
»Mama …! «
»Ich verbiete dir heute und morgen und ein- für allemal, zu diesen Russen zu gehen. Hörst du? Du gehst nicht, sonst muss ich … «
Der Schrei ist der einer Ertrinkenden. Das Gesicht gleicht der einer Erhängten und die Ohnmacht, die Merthe zurück ins Kissen schlägt, gleicht der einer Vergewaltigten.
Toni ist beklommen zumute. Sie kommt sich klein und hilflos vor und glaubt doch nichts Schlechteres, als dass der Schmerz in Mutters Brust ihren letzten Lebensmut zerstört hat, sie ängstlich macht und ungerecht.
Der Nachmittag vergeht ohne Worte. Merthe liegt wieder in den Kissen, doch sie schläft nicht. Toni sitzt vor dem Stapel Plakate am Küchentisch, taucht den Pinsel in die Farbe, setzt ihn aber nicht an der markierten Zeile an. Wenn sie jetzt einfach nach nebenan gehen und fragen könnte, was der Grund für diese Ängste ist. Sie geht nicht und auch ihre Gedanken bleiben steif in ihr hocken. Da steckt etwas ganz tief drinnen, was sie unbedacht berührt hat. Irgendetwas wühlt tief in ihrer Mutter. Soll sie wirklich daran rühren? Soll sie eintauchen in Vergangenes, das vielleicht gar nicht mehr zu ändern ist; jetzt, wo sie krank ist und ein quälendes Leid zu verkraften hat? Sie kommt mit sich überein, in irgendetwas ist sie völlig falsch verstanden worden.
Sie gibt sich einen Ruck, benetzt den Pinsel und schreibt mit lockerer Hand die ersten Zeilen. Der kleine Ruck gegen ihre schlechten Gedanken ist beileibe kein Trost für das junge Mädchen. Schon nach wenigen Augenblicken ist das alte Gefühl wieder da: Der Grund für den inneren Aufruhr ihrer Mutter ist kein gewöhnlicher. Es ist ein uralter, und der steckt in ihr fest.
Sind es die Russen? Was für ein Unsinn. Seit all den Jahren sind die Russen hier, was sollte heute anders sein? Was sollte überhaupt ein Grund sein? Es muss etwas anders sein. Wird sie ausgeschlossen von einem Wissen um etwas Grundlegendes? Ist das feste Band, das sie noch immer an ihre Mama kettet - das tiefe, seelische, das die Nabelschnur ersetzt, durch irgendetwas zerrissen? Hat sie selbst es zerrissen, weil sie sich abgenabelt hat? Weil sie Piet liebt?
Auf ihrem regelmäßigen Gesicht liegt ein Ausdruck von Verlorenheit, Minuten lang. Nie hat sie ihrer Mutter etwas verheimlicht - warum sagt sie nicht, was sie bedrückt?
Gerade als Toni so grübelt und gerade als Merthe die Lähmung ihres Entsetzens überwunden hat, klingelt es an der Wohnungstür. Holger Alex steht davor, in Motorradkluft, den zerkratzten Sturzhelm unter den Arm geklemmt.
»Ich will nur mal nach dem Rechten sehen«, sagt er und wartet nicht, bis er hereingebeten wird. Beinahe schiebt er Toni mit seiner kräftigen Statur beiseite.
Schon immer unsicher, ob sie etwas falsch macht, jetzt überdies noch schamvoll, einen der Chefs im äußerst einfachen Haushalt zu empfangen, sieht Toni willenlos zu, wie der Mann durch die Küchentür tritt. Auf dem großen Tisch, der einst der ganzen Familie Mittelpunkt war - und es gab eine Zeit, das saßen acht Leute daran, zwei Umsiedler inbegriffen - liegt der Stapel buntbedruckten Papiers. Am Pinsel klebt Farbe, die letzte Zeile ist noch nicht getrocknet, und einige fertig bearbeitete Exemplare liegen ausgebreitet auf der Liege an der Wand. Schon ruft der Mann:
»Fleißig, fleißig. Und, wie geht es deiner Mutter?«
Toni zeigt nur zur angelehnten Tür, obwohl sie ahnt, wie unangenehm ihrer Mutter der hilflose Zustand vor einem Fremden ist.
Später, weil Merthe die Sprache wiedergefunden hat, sagt auch sie ganz ruhig, dass sie nun ins Dorf fahren werde und dass sie sich bemühen will, diesmal nicht so lange zu bleiben.
Das Misstrauen ihrer Firma rührt sie weniger. Auf ihrem Weg bis zum Schuppen durchlebt sie alles noch einmal, was sie zuvor erschreckt hat. Sie dreht jedes Wort ihrer Mutter vorwärts und rückwärts, den Ton, den Blick und die machtlose Verzweiflung, hinter der sich etwas verbirgt, was Toni nicht in Worte fassen kann. Schlimmer. Sie kann dem Ganzen keine Logik abringen. Glaubt Mama, die Russen sind schuld an ihrem Leben? Glaubt sie, die Russen wollten diesen Krieg, der abertausend Unschuldige ins Verderben riss?
Sie hat die ganzen Jahre geglaubt, auch ihre Mutter ist in der neuen Zeit angekommen, in der das Bild der Sieger mit ihrer dunkelgrünen Militärmaschinerie dazugehört. Schon immer wurde die Geschichte von den Siegern geschrieben, schon immer malten die Sieger die Bilder dieser Welt mit ihren Farben aus. Das war so und wird immer so sein in der Geschichte der Menschheit.
Sie nimmt ihr Fahrrad und passiert die Siedlung: Sieben Häuser – ein kleiner Flecken für sich – abgeschnitten vom Puls der Zeit. 46 Familien kann man getrost als Nachbarn bezeichnen. Nicht wenig Menschen, aber wenig versorgt. Alles, was man zum Leben braucht, gibt es oben auf dem Hügel, wo sich das Dorf erstreckt. Drei Läden für Lebensmittel, einer für Haushaltwaren, das Kino – wenn auch nur im Saal einer Kneipe der Landfilm abgespielt wird, es ist ein Kino für die Menschen da - und zwei Kneipen mit Sälen für den Tanz am Samstag gibt es auch. Beklagen kann man sich nicht. Auch wer nicht ständig in der Stadt zu tun hat, kann im Dorf alles kaufen, was dringend benötigt wird. Keiner muss lange Wege gehen – die Leute der Siedlungen ausgenommen - um Schuhe, Bekleidung und Papierwaren zu kaufen. Drei Bäcker versorgen das Dorf und zwei Fleischer. Schneider und Schuhmacher haben ordentlich zu tun. Sogar eine Bibliothek gibt es hier, wenn auch nur an drei Tagen in der Woche für ein paar Stunden geöffnet ist.
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