Erschrocken dreht er sich um. An der Stimme erkennt Marco sofort, dass es sich um Lisa handelt. Bereits seit einigen Wochen geht ihm durch den Kopf, dass seit der Überweisung des Schweigegeldes inzwischen mehr als fünf Jahre verflossen sind. Heimlich hofft er, dass sich Lisa nie wieder melden wird. Mit einem Schlag ist dieser Wunsch wie eine Seifenblase zerplatzt. In einer recht unsanften Art und Weise wird Marco an das damalige Geschehen erinnert. Es gelingt ihm nicht, die Enttäuschung über das unverhoffte Wiedersehen zu verbergen. Nur mühsam kommt ein Gruß über seine Lippen. Mit belegter Stimme und sichtlich erregt entgegnet er: »Ach du bist es. Mit dir habe ich überhaupt nicht gerechnet. Was treibt dich denn an, unserer doch eher recht tristen Wohngegend einen Besuch abzustatten?«
Ironisch antwortet Lisa: »Die Freude über unser Wiedersehen steht dir förmlich ins Gesicht geschrieben. Wenn mich jedoch meine Erinnerungen nicht trügen, warst du nie ein besonders begabter Schauspieler.«
»Lass doch den Quatsch. Ist es Zufall oder hast du die Begegnung absichtlich gesucht? Wenn Letzteres zutrifft, dann hätte doch ein Anruf für eine Verabredung genügt.«
»Dir ist doch hoffentlich bewusst, weshalb ich dich aufsuche. Damit erweist sich deine Frage als völlig überflüssig. Von einer zufälligen Begegnung kann also keine Rede sein.«
»Dann sage deutlich, was du von mir willst.«
»Für unser Gespräch scheint mir der Ort hier mitten auf dem Bürgersteig nicht unbedingt geeignet zu sein. Ich schlage vor, ein Restaurant aufzusuchen. Dort besprechen wir alles in Ruhe.«
Als hätte er Angst, mit ihr gesehen zu werden, schaut sich Marco unsicher um. Sogleich kommt ihn die Unsinnigkeit seines Handelns in den Sinn: Wer sollte Arges dabei denken, wenn ich mich mit einer unbekannten Frau auf der Straße unterhalte. Nur Tamara sollte von der Begegnung nichts mitbekommen. Eine plausible Erklärung für ein Treffen mit Lisa zu finden, könnte ziemlich schwierig werden.
Fast hastig nimmt er ihren Arm und sagt mit brüchiger Stimme: »Du hast recht. Es ist wahrlich nicht die geeignete Stelle, um sich zu unterhalten. Selbstverständlich ist mir bewusst, weshalb du gekommen bist. Wir sollten von hier weggehen und einen anderen Ort für das Gespräch wählen. Leider kann ich deinem Wunsch, uns in einer Gaststätte zu unterhalten, nicht entsprechend. Hier in unserer Umgebung gibt es kein Restaurant.«
Erst als sie in die nächste Seitenstraße einbiegen, wird Marco etwas ruhiger und sagt: »Gehen wir doch noch ein Stück. Gleich nebenan befindet sich ein Park. Dort besprechen wir alles Weitere ungestört.«
Auf dem Weg dorthin spricht keiner ein Wort. Erst als sie auf der Parkbank Platz nehmen, bricht Marco das Schweigen und fragt: »Wie viel willst du haben? Doch sage ich schon vorab, dass es mir unter keinen Umständen möglich ist, dir auch nur einen Cent zu geben.«
»Gut, dass du begriffen hast, weshalb ich hierher gekommen bin. Das erspart mir eine Erklärung. An deiner Reaktion ist zu spüren, dass Tamara von dem Schweigegeld keine Kenntnis hat. Ein gutes Zeichen für die Erfüllung unserer Vereinbarung. Gleichzeitig versichere ich dir, dass auch von meiner Seite niemand etwas davon erfahren hat.«
»Natürlich hat Tamara davon nichts mitbekommen. Doch was glaubst du, wie schwierig es ist, eine solch hohe Summe vor ihr zu verbergen. Für die Zahlung des Schweigegeldes musste ich einen Kredit aufnehmen. Die Raten dafür sind noch immer jeden Monat fällig. Wegen der relativ langen Laufzeit sind allein schon die Zinsen ein Vermögen wert. Mit weiteren Forderungen würdest du mich an den Rand des Ruins bringen. Damit wäre weder dir noch mir gedient. Vielmehr wird das Risiko erhöht, dass Tamara doch davon erfahren könnte. Durch die geringfügige Summe der Rückzahlung der monatlichen Raten ist ihr bisher nichts aufgefallen. Bei einem höheren Betrag würde ich mit Sicherheit in Erklärungsnot geraten.«
Lisa schaut ihn kalt und berechnend an und entgegnet: »Halte bloß auf mit dem Gejammer. Wir haben eine klare und unmissverständliche Abmachung getroffen. Deine Bemerkung veranlasst mich, dich mit allem Nachdruck daran zu erinnern. Ohne meine Hilfe würdest du im Gefängnis sitzen und dein ganzes Leben wäre verpfuscht. Alles hat seinen Preis. Erwarte kein Mitleid von mir und überlege dir genau, bevor du mir antwortest.«
Die Stimme von Lisa ist eisig und herzlos. Marco wird sofort die Ausweglosigkeit seiner Lage bewusst. Blitzschnell überlegt er: Mit einer Mitleidstour wird wohl nichts zu erreichen sein. Allein ihr Blick lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Wie komme ich nur aus der verteufelten Situation heraus?
Um Zeit für neue Überlegungen zu gewinnen, sagt er versöhnlich: »Du hast ja recht. Natürlich weiß ich deine Hilfe und Unterstützung nach wie vor zu schätzen. Ohne dich wäre mein Leben zerstört.«
»So gefällt mir deine Einstellung schon viel besser.. Entsprechend unserer damaligen Absprache fordere ich nochmals den gleichen Betrag. Wenn du es vergessen hast, dann fällt es mir nicht schwer, die Summe nochmals zu nennen. Es handelt sich um fünfzigtausend Euro.«
Sichtlich erschrocken ruft Marco laut: »Du bist wahnsinnig. Deine Forderung ist völlig absurd. Es ist mir unmöglich, so viel Geld aufzutreiben.«
»Das ist nicht mein Problem. Bedenke, dass ein Hinweis von mir genügt und der Fall würde aufs Neue aufgerollt. Wer dann auf der Verliererseite steht, brauche ich dir wohl nicht ausdrücklich zu sagen.«
Marco hatte durch den Disput ausreichend Zeit, seine Gedanken zu ordnen und sich eine Strategie der Vorgehensweise gegenüber Lisa zu Recht zulegen. Fast schon triumphierend fällt seine Antwort aus, als er ihr entgegnet: »Du hast doch nichts in der Hand. Wer sollte dir nach einer solch langen Zeit überhaupt Glauben schenken? Alle Beweise belegen eindeutig, dass allein Maximilian der Mörder von Patricia ist. Kein Richter auf dieser Welt würde auf der Grundlage von nur verbalen Äußerungen die Untersuchung des Falles wieder aufnehmen. Sollte das wider Erwarten doch geschehen, würdest du in erhebliche Erklärungsnot geraten. Es gibt nicht den geringsten Beweis, dass ich als Täter auch nur annähernd in Betracht komme. Nach meinen bescheidenen Rechtskenntnissen macht sich zudem eine Mitwisserin und Erpresserin ebenfalls strafbar. Es scheint, dass du dich doch nicht auf der so absolut sicheren Seite befindest. Der Versuch, es mir einzureden, ist damit recht kläglich gescheitert.«
Ihr Schweigen auf seine Worte wird von ihm völlig falsch gedeutet. Er glaubt, dass sich die Rollen in dem Spiel um das Schweigegeld in das Gegenteil verkehrt haben und sie sich nunmehr völlig in seiner Hand befindet. Während Lisa in ihrer Tasche nach ihrem Smartphone sucht, spricht Marco recht selbstbewusst weiter. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht erklärt er wortreich: »Letztendlich wirst du das Geld nicht erhalten und stattdessen ebenfalls im Gefängnis landen. Suche dir aus, was für dich die angenehmere Lösung ist. Entweder mich, unwiderruflich und für alle Zeiten, in Ruhe zu lassen oder deine Freiheit für viele Jahre einzubüßen. Es ist sicher nicht übermäßig schwierig, darüber eine Entscheidung zu treffen. Ich glaube sogar, die Antwort darauf zu wissen. Alles andere würde mich schon sichtlich verwundern.«
Voller Überzeugung, recht wirkungsvolle und unmissverständliche Worte gesprochen zu haben, setzt sich Marco in Pose und schaut Lisa herausfordernd an. Im Gegensatz zu seinen Erwartungen lacht sie höhnisch und entgegnet: »Es ist töricht von dir, mich in solch einem Maße derart zu unterschätzen. Glaubst du wirklich, dass mir damals allein dein Wort genügt hätte, um sicher zu sein, dass du dich auch an die Vereinbarung halten würdest? Nein, nein, so naiv und leichtgläubig bin ich wahrlich nicht.«
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