1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Ach an Lisa ist das unverhoffte Wiedersehen nicht spurlos vorüber gegangen. Sie schließt die Wohnungstür auf und stellt das Reisegepäck im Korridor ab. Die Begegnung mit Maximilian lässt ihr Herz schneller schlagen. Wie ein Teenager eilt sie zum Fenster, um nochmals einen Blick auf ihn zu erhaschen. Leider vergebens. Von dem Taxi sind nur die Rücklichter zu sehen. Voller Wehmut schaut sie dem davonfahrenden Auto hinterher und erinnert sich mit einem Male recht heftig an ihre Jugendzeit: Soll der Zufall mir nach so vielen Jahren doch noch meinen Mädchentraum erfüllen?
Es geschah damals in der Jugendzeit. Lisa und Patricia wuchsen fast wie Geschwister auf. Beide waren siebzehn Jahre alt und teilten sich Freud und Leid der Teenagerzeit. Dann passierte es, was Lisa bis heute nicht vollends überwunden hat. Beide verliebten sich in den gleichen jungen Mann mit Namen Maximilian. Erstmals schwiegen sie gegenseitig über ihre Gefühle. Zum Leidwesen Lisas entschied er sich für Patricia. Ein Jahr später fand die Hochzeit statt. Sie glaubte damals, sich das Leben nehmen zu müssen. Die Aufgabe als Trauzeugin nahm Lisa mit sichtlichen Widerwillen wahr. Die Enttäuschung über die verlorene Liebe nagte zutiefst an ihrem Selbstbewusstsein. Zugleich wuchs ihr Groll gegen Maximilian ständig. Oftmals schlug die maßlose Enttäuschung in einen Regelrechten Hass um und sie wünschte wiederholt, dass ihm das nur aller erdenklich Böse und Schlimme geschieht. Auch das vormals so herzliche und innige Verhältnis zu Patricia erhielt einen Dämpfer. Diese bemerkte auf Grund der ersten glücklichen Ehejahre nichts von dem veränderten Verhalten ihrer Freundin. So vergingen die Jahre. Trotz zahlreicher Verehrer blieb Lisa allein. Keiner hielt dem Vergleich mit Maximilian stand. Ihre Gefühle schwankten ständig zwischen tiefer Zuneigung und einer unerbittlichen Feindseligkeit. Vor allem die Demütigung einer verschmähten Liebe bestimmte letztendlich ihr Verhalten bei der Gerichtsverhandlung. Unmittelbar nach der Verurteilung Maximilians empfand sie sowohl Genugtuung für die Strafe als auch unsagbar großes Mitleid mit ihm. Die innerliche Zerrissenheit wurde von ihr niemals wirklich überwunden. Gleichzeitig gewann zunehmend ein anderes Gefühl die Oberhand. Oftmals fragte sie sich, weshalb ihre Reaktion damals nicht besser eine andere gewesen wäre. Als Maximilian durch den Tod von Patricia endlich frei war, nutzte sie die Gunst der Stunde nicht, um ihn für sich zu gewinnen. Obwohl Lisa oftmals über einen möglichen Weg nachdachte, sich aus dieser sie belastenden Situation zu befreien, fiel ihr nie eine machbare Lösung ein. Mit den Jahren fing Lisa an, zu resignieren. Ihr wurde die Unmöglichkeit eines Zusammenseins mit Maximilian immer bewusster und sie fand sich langsam damit ab, ihn durch ihr törichtes Verhalten für endgültig verloren zu haben. Doch dann erfolgt wie durch ein Wunder die unverhoffte Begegnung am Flughafen. Die alten Wunden brechen wieder auf und Lisa fühlt sich in eine Zeit vor fünfzehn Jahren zurückversetzt. Das Zusammentreffen war so überraschend, dass sie in den ersten Minuten des Wiedersehens nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte. Daraus erklärt sich auch die recht zögerliche Beantwortung von Maximilians Frage nach der Möglichkeit eines Treffens mit ihr. Lisa erinnert sich recht gut an die Situation im Taxi und vor allem an die Gedanken, die ihr schlagartig durch den Kopf gingen: Nur jetzt keinen Fehler begehen! Es ist möglicherweise die letzte Chance, dass mein Traum eines Zusammenlebens mit ihm sich endlich erfüllt.
All die Überlegungen und vor allem das Nachdenken darüber, wie sie sich bei dem bevorstehenden Treffen mit Maximilian verhalten sollte, lässt Lisa an diesem Abend nur schwer in den Schlaf finden. Immer wieder grübelt sie über verschiedene Varianten ihres Vorgehens nach. Soll sie ihm die ganze Wahrheit sagen? Wie wird er wohl reagieren? Schließlich hatte sie es nach der Gerichtsverhandlung abgelehnt, mit ihm weiter in Kontakt zu bleiben. Seine inständigen Bitten um einen Besuch in der Haftanstalt wurden von ihr stets abschlägig beantwortet.
Das triumphierende Gefühl über die Verurteilung Maximilians ist seit dem unverhofften Wiedersehen nunmehr gänzlich verflogen. Die seit vielen Jahren unterdrückten Empfindungen gewinnen zunehmend die Oberhand. Lisa kann es kaum erwarten, Maximilian zu sehen. Sie hat sich entschlossen, ihm die vollständige Wahrheit über den Abend vor mehr als fünf Jahren zu sagen. Ihr ist bewusst, dass eine solche Offenbarung einem Spiel mit dem Feuer gleicht. Es ist ein Vabanquespiel zwischen alles zu gewinnen und endgültig alles zu verlieren. Zugleich erkennt sie, dass ein neues Leben unter keinen Umständen mit einer Lüge beginnen darf. Einer solchen seelischen Belastung will sie sich nicht aussetzen. Außerdem sind ihre Bedenken darauf gerichtet, dass Maximilian durch Marco und Tobias die Wahrheit erfahren könnte. Es ist ja nicht gänzlich auszuschließen, dass er von sich aus ein Treffen mit den beiden suchen wird. Dann wäre sowieso alles aus und vorbei. Einer solchen ständigen Angst und Unsicherheit möchte sie nicht ausgesetzt sein. All die wirren Gedanken, die zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit schwanken, bewirken eine innere Unrast und Lisa wird statt schläfrig, immer munterer. Sie steht auf und stellt sich ans Fenster. Mit Blick auf die Straße erinnert sie sich, erst vor wenigen Stunden vergeblich versucht zu haben, Maximilian nach der Verabschiedung nochmals zu sehen. In diesem Moment fällt ihr ein, dass ein Bild von ihm irgendwo in einen der Schubkästen liegen muss. Sie hat es lange nicht mehr betrachtet. Aufgewühlt durchsucht sie die Schrankkästen und hält schließlich das Foto in ihren Händen. Es handelt sich um eine Fotografie, auf der sie beide bei einem Tanz auf der Hochzeit abgelichtet sind. Lisa legt sich wieder hin und streicht zärtlich über den Kopf von Maximilian. Die Geste wirkt beruhigend und die innerliche Unrast flaut zunehmend ab. Jetzt fordern die Reisestrapazen und der Zeitzonenunterschied ihr Tribut. Ohne das Licht zu löschen, schläft sie nunmehr mit einem zufriedenen Lächeln um die Mundwinkel ein.
Es ist Dienstag. Maximilian steht bereits zwanzig Minuten vor der verabredeten Zeit an der Weltzeituhr auf dem Alex. Mit einem kaum merklichen Lächeln stellt er fest, dass ihm nicht als Einzigen dieser Treffpunkt einfiel. Er schaut sich um und bemerkt mehrere Personen, die etwas unschlüssig herumstehen und auf irgendjemanden zu warten scheinen. Ein junger Mann mit einem Biedermeiersträußchen läuft ständig auf und ab und schaut fast verzweifelt immer wieder nach oben auf die Uhr. Mit mitleidigen Gefühlen nimmt es Maximilian wahr und wünscht diesem jungen Mann im Stillen viel Glück, dass seine Angebetete recht bald erscheinen möge. Nach wenigen Minuten befällt ihn jedoch ebenfalls eine innerliche Unruhe. Seine Gefühle schwanken zwischen Bangen und Hoffen. Er ist sich nach Lisas Ablehnung eines Besuches in der Vollzugsanstalt oder einer weiteren Kommunikation mit ihm keinesfalls sicher, ob sie überhaupt erscheinen wird. Sogleich fallen ihm seine Gedanken vom gestrigen Abend wieder ein, als er begann, in Lisa mehr als nur eine Freundin zu sehen. Diese Überlegung bestärkt die Aufgeregtheit, die ihn schon den ganzen Morgen befallen hat. Seine Blicke schweifen in Richtung Rathauspassagen zu dem Ausgang der U-Bahn und wieder zurück über den Alexanderplatz zu den Bushaltestellen. Jetzt ertappt er sich selbst dabei, wie er zum wiederholten Male auf das Ziffernblatt der Weltzeituhr schaut. Noch vor wenigen Minuten hatte Maximilian den jungen Mann belächelt, der sich ebenfalls so verhielt und jetzt macht er das Gleiche.
Zum Glück für ihn dauert das ungeduldige Warten nicht all zu lang. Mit einem Gefühl der Erlösung sieht er Lisa die Treppen der U-Bahnstation emporkommen. Mit ihren vollen schwarzen Haaren und den großen ausdrucksvollen Augen sticht sie recht deutlich unter all den anderen Passanten hervor. Dann steht Lisa unmittelbar vor ihm. Ihre italienischen Wurzeln sind wahrlich nicht zu übersehen. Der Mund mit den etwas aufgeworfenen Lippen ist mit einem leichten samtenen Anflug schwarzer Härchen besetzt. Die geradlinige Nase bildet mit der Stirn das berühmte römische Profil. Sie sieht einfach hinreißend und begehrenswert aus. In nur wenigen Sekunden geht ihm durch den Kopf, warum er die soeben getroffene Feststellung nicht schon vormals getroffen hat. Die aufkommenden Gedanken, dass es mehr als nur ein freundschaftliches Treffen werden könnte, verdrängt er vehement. Jetzt, wo sie ihm unmittelbar gegenübersteht, kommen ihm seine Überlegungen vom Abend vor zwei Tagen nahezu absurd vor. Schließlich kennt er diese Frau seit mehr als einem Jahrzehnt. Ihr würde ein solches Ansinnen sicher äußerst befremdlich, wenn nicht sogar lächerlich vorkommen. Betont leutselig fällt deshalb seine Begrüßung aus. »Hallo Lisa, ich hoffe, dass du die Anstrengungen der Reise so einigermaßen verkraftet hast und dich in unseren Breitengraden wieder wohlfühlst. Wie geht es dir?«
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