»Danke der Nachfrage. Ich fühle mich pudelwohl und habe die Zeitumstellung überwunden. Geblieben sind die wunderschönen Eindrücke und Erinnerungen an die Copacabana und an die vielen angenehmen Begegnungen mit brasilianischen Freunden. Nur an die südamerikanische Küche konnte ich mich nicht so recht gewöhnen.«
»Dann wirst du sicher recht großen Appetit auf deutsches Essen haben. Im Nikolaiviertel kenne ich ein auf Hausmannskost spezialisiertes Restaurant. Dort gibt es handgemachte Thüringer Klöße. Dazu eine Rinderroulade. Was sagst du zu meiner Idee? Klingt doch recht lecker.«
»Danke für den Vorschlag und dass du Rücksicht auf mich nimmst. Doch ich würde sehr gerne vor dem Essen einen kleinen Spaziergang unternehmen, damit wir danach den richtigen Appetit verspüren. Mir würde dazu Nikolskoe einfallen. Dort bieten sich dazu die besten Voraussetzungen, um sowohl ein Stück Berliner Geschichte kennen zu lernen als auch die Natur zu genießen. Zudem sind die Namen doch fast identisch. Sie fangen beide mit ‚Nikol’ an«, äußert Lisa lachend.
Ihre humorvolle Art überträgt sich umgehend auf Maximilian. Ebenfalls scherzend antwortet er: »Um deinen Wunsch zu erfüllen, werde ich sofort meinen Chef anrufen und nachfragen, ob er uns ein Taxi zur Verfügung stellt. Mit etwas Glück bekommen wir eine Leerfahrt und brauchen dafür kein Geld auszugeben.«
»Dazu besteht kein Erfordernis. Wir fahren mit der S-Bahn bis Wannsee und sind mit dem Bus in kurzer Zeit an unserem Ziel angelangt.«
»Dann hoffe ich, dass du dich mit dem Lösen eines Fahrscheines auskennst. An meine letzte Fahrt mit der Bahn kann ich mich kaum noch erinnern«, erwidert Maximilian scherzend und fügt sogleich humorvoll hinzu: »Der Name Nikolskoe klingt eher russisch. Ist das Fahrgeld deshalb mit Rubel und Kopeken zu bezahlen?«
Lisa lacht und entgegnet: »Mit deiner Bemerkung zu dem Namen hast du recht. Das werde ich dir in der Bahn und im Bus etwas näher erklären.»
Die Fahrt gestaltet sich kurzweilig. Im Stile eines ortskundigen Reiseführers erklärt Lisa ihm die Geschichte von Nikolskoe: »Die Gaststätte, in der wir später zu Mittag essen werden, heißt übersetzt 'Nikolauseigen'. Das Blockhaus wurde im Jahre 1818 nach russischem Vorbild durch König Friedrich Wilhelm III. erbaut. Es war ein Geschenk an seine älteste Tochter Charlotte, welche 1817 den russischen Großfürsten und späteren Zar Nikolaus heiratete.«
Schmunzelnd bemerkt Maximilian: »Bisher glaubte ich, dass die Adligen der damaligen Zeit nicht einfache Bauernhäuser, sondern eher Schlösser und Paläste bevorzugten. So kann man sich eben irren.«
»Nein, nein, du unterliegst keinesfalls einem Irrtum. Mit dem Blockhaus hat es eine besondere Bewandtnis. Als der König das junge Paar in Petersburg besuchte, hatte der Großfürst für seinen deutschen Gast einen Empfang in einem typischen russischen Bauernhaus organisiert. Charlotte soll damals gegenüber ihrem Vater geäußert haben, dass sie sich vorstellen könne, statt in einem Palast in solch einem Haus zu leben. Wie Väter in der Regel nun einmal zu ihren Töchtern sind, hatte Friedrich Wilhelm III. die Bemerkung als Wunsch verstanden und ließ umgehend ein solches Haus errichten. Nach nur sechs Wochen Bauzeit war das Blockhaus fertig und er übergab es seiner Tochter anlässlich eines Gegenbesuches. Sechzehn Jahre später ließ der König in der Nähe des Blockhauses, ebenfalls nach russischem Vorbild, die Kirche 'St. Peter und Paul' bauen. Damit hatte Berlin ein attraktives Ausflugsziel erhalten.«
Maximilian ist von den historischen Kenntnissen Lisas sichtlich beeindruckt und äußert: »Bei solchen umfangreichen Wissen über die Geschichte von Nikolskoe wirst du sicher problemlos in der Lage sein, mir die Frage zu beantworten, wie aus einem ursprünglichen königlichen Geschenk eine Gaststätte entstanden ist. Wenn ich den Weg bedenke, den wir bisher mit der Bahn und jetzt im Bus zurückgelegt haben, dann ist sicher der Restaurantbetrieb zu einer viel späteren Zeit entstanden. Vor zirka zweihundert Jahren gab es keine öffentlichen Verkehrsmittel und eine Gaststätte ohne Besucher wäre ziemlich widersinnig.«
»Natürlich hat die Entwicklung zu einem Restaurant einige Zeit gedauert. Anfangs waren die vorderen und oberen Räume allein für den Hofstaat reserviert. Mit Einführung der Eisenbahn und der Dampfschifflinien mehrten sich die Besucherzahlen. Der recht umtriebige Verwalter des Blockhauses, der gleichzeitig königlicher Leibkutscher war, bot recht bald für die Ausflügler Speise und Trank an. Somit hat die Gaststätte eine über einhundert Jahre alte Tradition.« Maximilian hätte gerne weiter den Ausführungen von Lisa zugehört. Doch die Stimme des Busfahrers unterbricht ihre Schilderung. Sie sind an ihrem Ziel angekommen.
Der Weg entlang des Ufers bietet einen herrlichen Ausblick auf die an dieser Stelle sich wie ein See ausbreitende Havel. Nur wenige Menschen sind an dem heutigen Wochentag unterwegs. Entgegen den lebhaften Erzählungen während der Fahrt wird Lisa immer einsilbiger und spricht kaum noch ein Wort. Ihr gehen im Augenblick ganz andere Gedanken durch den Kopf, als mit Maximilian über geschichtliche Hintergründe oder die Schönheit der Natur zu plaudern. Er kann davon nichts ahnen und preist in höchsten Tönen den herrlichen Ausblick auf die Havel und die vorüber fahrenden Schiffe. Für Lisa ist die innerliche Anspannung fast unerträglich. Sie möchte sich so schnell als möglich von dem seelischen Ballast befreien und dazu Maximilians Meinung hören. Eine am Ufer stehende Parkbank lädt förmlich zum Verweilen ein. Sie nehmen Platz und schauen für einige Augenblicke wortlos auf das Wasser. Anfangs sehr leise und recht zögerlich beginnt Lisa zu erzählen: »Ich empfinde seit unserer Begegnung am Flughafen ein unendliches Mitleid mit dir. Damals vor fünf Jahren waren meine Gefühle ganz andere. Bitte unterbrich mich nicht und sage zum Schluss nur, ob du mir verzeihst. Ich hoffe auf ein klein wenig Verständnis, verstehe aber auch, wenn meine Schilderungen für dich schmerzlich sind und du mich verachtest.«
Maximilian hört ihren Worten aufmerksam zu. Den Sinn der einleitenden Äußerungen begreift er nicht. Erst als Lisa weiter spricht und ihn über die wirklichen Geschehnisse in der so fürchterlich endenden Nacht des dreißigsten Geburtstages von Patricia aufklärt, begreift er die ganze Tragweite ihrer Worte. Das seit der Haftentlassung zunehmend abgeebbte Gefühl der Vergeltung für die unschuldig verbüßte Gefängnisstrafe flammt erneut in ihm auf. Mit der Offenbarung Lisas hat er nunmehr den wahren Schuldigen für das erlittene Unrecht und den Tod Patricias gefunden.
Ziemlich niedergeschlagen äußert er über das soeben Gehörte: »Seit fünf Jahren interessiert mich nichts anderes, als die Wahrheit über das Geschehene zu erfahren. Dass sie so brutal sein kann, hätte ich nicht für möglich gehalten. Von deiner Liebe zu mir höre ich heute zum ersten Mal und finde im Moment darauf keine Antwort. Es kommt so überraschend, so dass mir im Augenblick nicht klar ist, ob ich mich über deine Offenheit freue oder traurig über die vielen nutzlos verstrichenen Jahre bin. Dieser Umstand ist für mich jedoch nebensächlich. Als wichtiger betrachte ich die Tatsache, endlich den wahren Mörder Patricias zu kennen. Kein Mensch kann sich vorstellen, was es bedeutet, unschuldig eine solch lange Haftstrafe zu verbüßen zu. Wie oft habe ich in dieser Zeit hinter Gittern Rache geschworen. Doch stets stand am Ende der Überlegungen der Satz: 'Wer ist der Mörder?' Nunmehr weiß ich es und kann endlich handeln.«
»Was gedenkst du jetzt zu unternehmen? Willst du Marco zur Rede stellen? Wie wirst du mit Tobias umgehen? Und vor allem möchte ich wissen, wie und was du mir gegenüber empfindest. Darf ich trotz meines Handelns auf ein wenig Verständnis von dir hoffen?«
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