1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Das leichte Lächeln bleibt in seinem Gesicht haften, als er die Größe des Rollkoffers des neuen Fahrgastes wahrnimmt. Wie bei fast allen weiblichen Reisenden hat dem Umfang zu Folge darin der Inhalt eines mittelgroßen Kleiderschrankes Platz. Als Maximilian den schweren Koffer anhebt, schaut er erstmals der Dame ins Gesicht. Völlig überrascht setzt er das Gepäckstück wieder ab und ruft erstaunt: »Lisa! Ich glaube es nicht. Bist du es wirklich?«
Lisa Morani bemerkte bereits beim Öffnen der Fahrzeugtür, dass es sich um Maximilian handelt. Noch immer sitzt ihr der Schreck über die unerwartete Begegnung in den Gliedern. Etwas verlegen sagt sie: »Welch ein Zufall. Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Trotzdem habe ich dich sofort wiedererkannt. Du hast dich kaum verändert.«
»Das kann ich auch von dir behaupten. Immerhin sind mehr als fünf Jahre vergangen, seit wir uns das letzte Mal sahen.«
Nach diesem kurzen Wortwechsel stehen sich beide etwas hilflos gegenüber. Während Lisa befürchtet, dass sie sogleich heftige Vorwürfe wegen ihres Verhaltens von damals vor Gericht zu hören bekommt, bewegen sich Maximilians Gedanken in eine völlig andere Richtung. Blitzschnell überlegt er, dass der Zufall ihm die Möglichkeit in die Hand spielt, nunmehr etwas über die tatsächlichen Umstände des Geschehens in der bewussten Mordnacht zu erfahren.
Inzwischen sind bereits mehrer Taxis an ihnen vorbei gefahren. Erst als der hinter ihm stehende Kollege die Fensterscheibe an der Beifahrerseite herunterlässt und laut ruft: »Wat denn? Willst du hier Wurzel schlagen oder viel lieber Kohle verdienen?«, streift Maximilian die ihn kurz überwältigte Befangenheit ab und verstaut umgehend das Reisegepäck im Kofferraum. Entgegen seinen Erwartungen nimmt Lisa im Fond des Wagens Platz. Sie nennt ihm ihre Adresse. Es handelt sich um die gleiche Wohnung, die Maximilian aus den Zeiten, als sie eng befreundet waren, bekannt ist.
Die Fahrt verläuft anfangs schweigend. Zu groß war die Überraschung über das unverhoffte Wiedersehen. Keiner von beiden weiß, wie er damit umzugehen soll und sie suchen im Stillen nach einem möglichst unverfänglichen Thema für ein Gespräch. Nach einer Weile räuspert sich Maximilian und fragt mit leicht belegter Stimme: »Lebst du eigentlich allein, weil dich niemand begleitet oder vom Flughafen abholt?«
Lisa ist froh, dass das bei ihr bereits Unbehagen auslösende peinliche Schweigen beendet ist. Mit einem Anflug von Sarkasmus entgegnet sie ihm: »Was soll ich darauf schon antworten. Leider oder zum Glück ist mir der Richtige bisher nicht über den Weg gelaufen. Ich bin tatsächlich immer noch Single und verspüre im Moment weder Lust noch Verlangen, meine derzeitigen Lebensumstände zu ändern.«
Maximilian gefällt vor allem Lisas Tonfall nicht. Die Worte kommen ziemlich gekünstelt über ihre Lippen. Ihn beschleichen Zweifel, ob sie damit die volle Wahrheit von sich gegeben hat. Nach kurzer Überlegung äußert er: »Verstehe mich bitte jetzt nicht falsch, wenn ich dich frage, ob wir uns einmal treffen könnten? Du brauchst keine Bedenken zu haben, als Seelentrösterin für einen alleinstehenden Herrn zu dienen, dem es nach fünfjähriger Haftzeit nach einer Frau gelüstet. Unsere Begegnung könnte unverfänglich zum Beispiel in einem Restaurant stattfinden.«
Lisa überlegt einen kurzen Augenblick und denkt über die von Maximilian geäußerten Worte nach. Entgegen ihren tatsächlichen Gefühlen sagt sie recht kühl: »Dazu kennst du doch meine Meinung von den Telefonaten aus der Haftanstalt. Warum sollte ich diese aufgrund unserer zufälligen Begegnung geändert haben?«
Sichtlich enttäuscht über die Antwort äußert Maximilian resigniert: »Mir ist bis heute unverständlich, weshalb ihr mich alle für den Mörder von Patricia haltet. Ich schwöre, die Tat nicht begangen zu haben. Vielleicht hast du recht, dass unser heutiges unverhofftes Wiedersehen deine Meinung über mich nicht schlagartig ändern kann. Trotzdem solltest du mir eine Chance geben, dich von meiner Unschuld zu überzeugen.« Lisa benötigt einige Minuten, um über seine Worte nachzudenken. Maximilian kommt es wie eine Ewigkeit vor. Schließlich äußert sie: »Einverstanden, aber nicht gleich heute oder morgen. Ich benötige mindestens ein bis zwei Tage, um den Jetlag zu überwinden und meinen kleinen Haushalt zu ordnen.«
In Maximilian glimmt ein Funke Hoffnung auf, nun doch noch einige Einzelheiten über das Geschehen zu erhalten, welches für ihn vor fünf Jahren so tragisch endete. Zuversichtlich gibt er von sich: »Das trifft sich hervorragend. Übermorgen habe ich einen freien Tag. Wir könnten uns an der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz treffen und ein tolles Restaurant in Berlin-Mitte besuchen.«
»Damit bin ich einverstanden. Sei bitte pünktlich und lasse mich nicht wie ein von ihrem Liebsten im Stich gelassenes pupertierendes Mädchen herumstehen.«
Maximilian lacht und sagt vergnügt: »Deine Gedanken sind völlig überflüssig. Auf meine Pünktlichkeit ist schon immer Verlass gewesen.«
Auf der Fahrt zurück zum Flughafen überlegt Maximilian: Was wird Lisa bewogen haben, einem Treffen mit mir zuzustimmen. Warum nur brauchte sie eine gewisse Zeit für die Entscheidung? Zudem klang ihre Stimme bei der recht zögerlich vorgetragenen Antwort ziemlich befangen. Doch eines ist gewiss: Lisa sieht bezaubernd aus und ist in den fünf Jahren eine noch attraktivere Erscheinung geworden, als ich sie in Erinnerung habe. Jetzt ist meine Neugier erst recht geweckt, warum sie immer noch ungebunden ist und bisher angeblich nicht den richtigen Partner gefunden hat. All diese Gedanken schwirren ihm bis zum Dienstschluss ständig durch den Kopf, ohne dass er auf die einzelnen, sich immer wieder gestellten Fragen, eine schlüssige Antwort findet.
Dann ist es endlich soweit und Maximilian übergibt das Taxi an einen Kollegen. Wie an allen Abenden zuvor setzt er sich in seiner Wohnung mit einem Glas Bier an den Couchtisch und zählt die Tageseinnahmen. Die Geldbörse ist heute recht gut gefüllt. Maximilian hatte im Verlauf des Tages kaum Standzeiten und beförderte fast pausenlos Fahrgäste. Den an die Bank einzuzahlenden Betrag stapelt er sorgfältig und verstaut ihn in einem Briefumschlag. Für ihn bleibt eine recht erquickliche Summe übrig. Statt sich, wie sonst üblich, darüber zu freuen, schweifen am heutigen Abend seine Gedanken ab und er stellt zum wiederholten Male fest, dass die Begegnung mit Lisa in seinen Erinnerungen ziemlich stark haften geblieben ist. Zunehmend beherrschen ihn ganz andere Gedanken, als die Fragen, die ihm den ganzen Tag durch den Kopf gegangen sind. Er vergleicht Lisa mit Patricia und stellt fest, dass sie bisher als einzige Frau solch einem Vergleich standhält. Schließlich Fest, dass sie bisher als einzige Frau solch einem Vergleich standhält. Schließlich ertappt sich Maximilian dabei, mehr als nur Sympathie für Lisa zu empfinden. Als seine Vorstellungen über den Verlauf des in zwei Tagen stattfindenden Treffens darin gipfelt, sie heftig zu umarmen, gibt er sich innerlich einen Ruck und sagt halblaut vor sich hin: »Alter Esel, Lisa ist nicht mehr, als eine Freundin. Ich sollte mich viel mehr darauf konzentrieren, mit ihrer Hilfe das Geschehen in der Mordnacht zu rekonstruieren, um einen Hinweis auf den wahren Mörder Patricias zu erhalten. Meine Gedanken, ein Verhältnis mit ihr einzugehen, sind wahrlich aberwitzigen Vorstellungen. Wenn sie nur annähernd etwas für mich empfinden würde, dann wäre mir das in den vielen Jahren vor Patricias Ermordung aufgefallen. Es wäre sicher hilfreicher, solche Hirngespinste tunlichst zu unterlassen.«
Der Gedanken keimt in ihm auf, dass es zwischen Lisa und seinen Freunden einen Zusammenhang mit dem Verbrechen gibt. Eine solche Überlegung war ihm bereits in der Haftzeit wiederholt in den Sinn gekommen. Doch genau wie oftmals zuvor verwirft er ihn augenblicklich. Allein die Vorstellung dazu erscheint ihm auch am heutigen Abend zu absurd. Ärgerlich über sich und seine für ihn im Moment absonderlichen Ideen lässt er das halbvolle Glas Bier achtlos stehen und begibt sich zur Nachtruhe.
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