»Das hat er tatsächlich gesagt?«, ruft Tobias fassungslos aus.
»Es sind selbstverständlich seine Worte. Darüber hinaus benutzte er noch ein viel obszöneres Vokabular, welches ich dir mit Rücksicht auf deine Verletzlichkeit lieber ersparen möchte. Patricia sprach übrigens in ähnlicher Weise recht geringschätzig über dich. Nun entscheide, ob Maximilian dein Mitleid verdient. «
Tobias sitzt zusammengesunken im Sessel. Die Worte haben ihn zutiefst getroffen. Nach einem Augenblick des Nachdenkens sagt er ziemlich zerknirscht: »Eine solche Gemeinheit hätte ich Maximilian niemals zugetraut. Wenn es sich so verhält, dann könnt ihr mich selbstverständlich als Partner betrachten.«
Lisa und Marco atmen hörbar auf. Jetzt steht Tobias endgültig auf ihrer Seite. Mit
seiner Verschwiegenheit über den tatsächlichen Ablauf des Geschehens können sie rechnen. Sogleich reist Lisa das Geschehen wieder an sich und sagt resolut: »Als Nächstes ist die Polizei zu verständigen. Das übernimmt Marco.« »Wenn ich das Handy benutze, erkennen sie doch meine Nummer. Wie soll ich später einen solchen Anruf rechtfertigen?«, wendet Marco ein.
»Dann unterdrücke deine Nummer. Dass man es so macht, weiß doch jedes Schulkind«, äußert Tobias, endlich froh darüber, einen Beitrag zu leisten.
»Um Gottes willen«, ruft Lisa aus, »wir alle drei werden in wenigen Stunden im Fadenkreuz der Ermittler stehen. Die checken unser ganzes Verhalten in den letzten Stunden. Über die Telefongesellschaft erhalten die Kriminalbeamten Auskunft, mit wem jeder von uns in der in Frage kommenden Zeit telefonierte. In dem Fall nutzt eine Nummerunterdrückung gar nichts.«
»Es wird besser sein, eine Information an die Polizei zu unterlassen. Ihr seht ja selbst, dass es nicht funktionieren kann. Irgendwann hat Maximilian seinen Rausch ausgeschlafen und findet Patricia. Er wird von sich aus die eins-eins-null anrufen«, reagiert Tobias auf die erneute Zurechtweisung.
Mit einer abwertenden Handbewegung wischt Lisa die Bemerkung weg und sagt zu Marco: »Natürlich wirst du weder von deinem Handy noch von meinem Festnetz aus die Polizei informieren. In der Jägerstraße befindet sich eine der wenigen öffentlichen Telefonzellen. Du gibst dich als Nachbar von Maximilian und Patricia aus und schilderst, dass es dort einen bedrohlich klingenden Streit gegeben habe. Jetzt sei es beängstigend still, aber das Licht würde noch immer brennen. Halte am besten ein Taschentuch vor die Sprechmuschel und verstelle deine Stimme. Bei den späteren Ermittlungen wird sicher dieser Anruf eine Rolle spielen. Auf der Tonbandaufzeichnung darf keineswegs deine Stimme erkannt werden.«
Der resolute Ton Lisas lässt die beiden Männer verstummen. Zudem fällt keinem von ihnen ein vernünftiges Gegenargument ein. Schließlich steht Marco auf und sagt beim Verlassen der Wohnung: »Es gibt wohl keine Alternative, als deine Anweisung zu befolgen. Zudem bin ich dir dankbar, dass du mir hilfst, aus dieser äußerst misslichen Lage unbeschadet herauszukommen.«
Lisa und Tobias bleiben allein zurück und warten auf seine Rückkehr. Nach einigen Minuten des Schweigens fragt er zaghaft: »Ich kenne mich in solchen Dingen überhaupt nicht aus. Mit wie vielen Jahren Freiheitsstrafe muss Maximilian rechnen?«
»Ein Mörder wird in der Regel zu einer lebenslänglichen Haft verurteilt. Doch er trank heute Abend ziemlich viel. Dadurch kann er mit einer Strafminderung rechnen. Aber das ist im Moment wahrlich das geringste Problem sein. Vielmehr solltest du nie vergessen, wie abfällig sich Maximilian über dich äußerte.«
»Ein klein wenig Mitleid habe ich trotzdem mit ihm. Seine Bemerkungen über mich stehen in keinem Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe.«
Die Worte gehen nicht spurlos an Lisa vorbei. Entsprechen sie doch der Wahrheit. Um die aufkeimenden Sympathiegefühlen für Maximilian abzuwehren, sagt sie verhältnismäßig laut: »Wo bleibt denn nur Marco?«
Als hätte er die Frage gehört, kehrt der soeben Genannte in diesem Moment von seinem Anruf aus der Telefonzelle wieder zurück in die Wohnung und berichtet optimistisch: »Es verlief alles ohne Zwischenfälle. Der Beamte notierte sich die Adresse von Maximilian und Patricia. Als er nach Angaben zu meiner Person fragte, legte ich den Hörer auf.«
»Mit welchen Namen hast du dich denn ausgewiesen? Wenn die Kripo alles überprüft und diesen Nachbarn gibt es gar nicht, dann könnten sie doch stutzig werden«, äußert Tobias.
»Genau das waren meine Gedanken auf dem Weg zur Telefonzelle. Deshalb gab ich mich als einen zufällig vorübergehenden Passanten aus, der einen Streit, einen schrillen Schrei und danach eine unheimliche Stille wahrnahm. Aus der Reaktion des Beamten schlussfolgere ich, dass er meine Schilderungen für glaubhaft hielt.«
Zu Beginn seiner Ausführungen runzelt Lisa bedenklich die Stirn. Doch die Argumente überzeugen sie. Mit einem Mal wird sie hektisch und sagt: »Jetzt ist Eile geboten. Wir wissen nicht, wie schnell die Polizei vor Ort sein wird. Auf alle Fälle erfahren die Beamten bei der Befragung Maximilians in Kürze unsere Namen. Die Kripo muss jeden von uns zu Hause antreffen. Bitte verhaltet euch vorsichtig und vermeidet, dass ein Nachbar euer Nachhausekommen bemerkt.«
»Aus meiner Sicht übertreibst du aber gewaltig. Als ich das Hemd für Marco holte, war in keinem der Wohnhäuser ein Fenster erleuchtet. Um diese Uhrzeit schlafen doch alle fest und tief«, wendet Tobias ein.
»Unterlasse doch in unserer Situation solche rechthaberischen Sprüche. Sie sind im Moment völlig deplatziert. Nach dem Telefonanruf von Marco wird es nicht mehr lange dauern und die Kripo beginnt mit den Ermittlungen. Deshalb gilt es, jegliche Aufmerksamkeit zu vermeiden. Bei den anstehenden Vernehmungen sollten sie nicht den geringsten Anhaltspunkt finden, dass wir bezüglich der Uhrzeit des Verlassens der Wohnung die Unwahrheit sprechen. Es kann doch wahrhaftig nicht so schwer sein, das Treppenlicht nicht einzuschalten und sich in seiner eigenen Wohnung im Dunkeln zu bewegen.«
Marco nickt zustimmend und auch Tobias gibt kleinlaut bei. Beide verlassen umgehend Lisa und halten sich strikt an die von ihr erteilten Verhaltensregeln.
Maximilian findet nach zwei Wochen eine kleine preiswerte Wohnung am Stadtrand und verlässt das Hotel. Die Suche nach einer Arbeitsstelle gestaltet sich dagegen weitaus schwieriger. Auf mehrere Bewerbungen in seinem Beruf als Banker erhält er Absagen. Ihm fällt ein, als Student die Taxifahrerlaubnis erworben zu haben. Leider ist die Gültigkeitsfrist abgelaufen. Der Antrag einer Verlängerung wird problemlos genehmigt. Somit steht einer Anstellung im Dienstleistungsgewerbe nichts mehr im Wege. Die recht abwechslungsreiche Arbeit als Taxifahrer gefällt ihm zunehmend immer besser. Die Zeit vergeht und die Entlassung aus der Haftanstalt liegt nunmehr ein halbes Jahr zurück. Maximilian findet sich nach einem etwas holperigen Anfang recht schnell wieder im normalen Alltag zurecht. Die ständigen Kontakte zu anderen Menschen besänftigen zunehmend den vormals gehegten Drang, unbedingt Rache für das ihm zugefügte Unrecht zu üben. Nur wenn er die Abende allein in seiner Wohnung verbringt, kann er sich den Erinnerungen an Patricia nicht verschließen. Der tagsüber abhandengekommene Wille, Vergeltung zu üben, wird dadurch immer wieder aufs Neue bestärkt.
Ablenkungen von seinen düsteren Gedanken verschaffen ihm die wöchentliche Skatrunde mit Arbeitskollegen und die Besuche der Eckkneipe im Kiez, wo er mit Gleichgesinnten die Fußballspiele auf Sky verfolgt. Sein Leben verläuft in geordneten Bahnen und die Vergangenheit verblasst zunehmend. Langsam erwacht in Maximilian das Interesse für das andere Geschlecht. Mehrmals ertappt er sich, attraktive Frauen mit Patricia zu vergleichen. Bisher hat keine seinen Vorstellungen entsprochen. Heute ist Sonntag. Am Flughafen Tegel reiht sich Maximilian mit dem Taxi in die Schlange der auf Fahrgäste wartenden Kollegen ein. Durch die Glasscheiben der Empfangshalle beobachtet er die freudige Begrüßung und teilweise stürmischen Umarmungen der erwarteten Freunde, Liebsten und Bekannten. Ein klein wenig Wehmut steigt in ihm auf. Trotz aller positiven Lebensumstände fehlt ihm diese Herzlichkeit. Für solche Gedanken bleibt nicht allzu viel Zeit. Recht schnell steht Maximilian an der Spitze der Warteschlange. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt dem nächsten Fahrgast. Nur flüchtig nimmt er wahr, dass es sich um eine alleinreisende junge Frau handelt.. Flink steigt er aus, um ihr Reisegepäck im Kofferraum des Taxis zu verstauen. Die zuvorkommende Behandlung seiner Fahrgäste hat er sich von Anfang an zu Eigen gemacht. Ein solches kundenfreundliches Verhalten bescherte ihm bei zahlreichen Fahrten oftmals ein recht üppiges Trinkgeld. Mehrmals wurde Maximilian auf sein hilfsbereites Verhalten angesprochen. Mit einem Lächeln erinnert er sich an die Bemerkung eines älteren Herrn, dem sein Dialekt unverwechselbar als Schwaben auswies. Er sagte zu ihm: 'Du bischt doch gar nischt so schdofflig, wie der Ruf, der euch Berliner Taxifahrern vorauseilt'.
Читать дальше