Lily Zimmermann
Heute sterben wir noch nicht
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Inhaltsverzeichnis
Titel Lily Zimmermann Heute sterben wir noch nicht Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog
Kapitel 1: Gruppentherapie
Kapitel 2: Spezialauftrag
Kapitel 3: Der Absturz
Kapitel 4: Rettung in letzter Minute
Kapitel 5: Este Schritte
Kapitel 6: Felix
Kapitel 7: Erste Therapiestunde sie heißt Dr. Sowa
Kapitel 8: Marcella
Kapitel 9: Sonntagsclub
Kapitel 10: Wenn alles ganz anders ist?
Kapitel 11: Coco
Kapitel 12: Therapiestunde Narkosemittel
Kapitel 13: Liebe und Sport
Kapitel 14: Marcella und die Gräfin
Kapitel 15: Therapiestunde Angst
Kapitel 16: Authentizität
Kapitel 17: Marcellas Cousine
Kapitel 18: Therapiestunde Ich-Suche
Kapitel 19: Tante Ruths Rettung
Kapitel 20: Therapiestunde Ich-Bin
Kapitel 21: Idylle unter dem Gurkenblatt
Kapitel 22: Therese und das Schlimmste in mir
Kapitel 23: Allein mit Coco
Kapitel 24: Immer wieder Therese
Kapitel 25: Am Ende
Kapitel 26: Und weiter?
Kapitel 27: Der Pinguin auf dem Dach
Impressum neobooks
Der Tag, an dem ich beschloss, nicht mehr nett zu sein, war der erste Tag meiner Genesung. Und nur, weil es ein Kerl auf dem Bahnsteig sehr eilig hatte und mich beinahe vor die U-Bahn gestoßen hätte. Wenn es der erste Wagen gewesen wäre. So geriet nur mein Handgelenk zwischen die Flügel der elektronischen Tür. Bei dem Versuch, noch in die Bahn zu springen, obwohl das Warnsignal schon ertönte und die rote Lampe blinkte, rempelte er mich von hinten und ich flog mit vorgestreckten Armen auf den enger werdenden Türschlitz zu. Zack war die linke Hand drin. Immerhin versuchten der Rempler von außen und zwei junge Männer von innen beherzt die Tür wieder zu öffnen. Alle drei griffen in den Spalt, der durch meine Hand entstanden war, und rissen daran. Eine Zehntelsekunde und ein Zentimeter reichten und meine Hand war frei. Der Zug konnte endlich los, übrig blieben nur der Rempler und ich. Der nahm mein vor Angst und frischer Empörung entstelltes Gesicht in seine Hände und rief: „ Wäre wirklich schade um dieses schönes Lächeln“, und verwischte mit streichelnden Daumen die Tränen. Genau in dem Moment verwandelte er sich in einen Prinzen und es hätte der Beginn einer großen Liebesgeschichte sein können, wenn ich nicht so beschissen drauf gewesen wäre.
„Ich bin ein durch und durch melancholischer Mensch“, fauchte ich, „ich liebe Gothic-Musik und meine Lieblingsfarbe ist schwarz. Von allem gefällt mir das Traurigste am besten, egal, ob es Bilder, Melodien oder Bücher sind. Und ich habe Todessehnsucht wie nach einem Geliebten. Ich lache überhaupt nie.“
„ Nanu?“ fragte er und kam mit seinen Augen so dicht an mein Gesicht, als wollte er seine Wimpern mit meinen verhaken, „der Kopf war doch nicht eingeklemmt, nur die Hand.“
Trotzig schleuderte ich ihm entgegen: „So schnell kann ich tot sein. Was nützt mir, Sina Sonnenschein nach der ganzen Qual eine Grabinschrift: ,Aber sie hat immer so nett gelächelt’?“
Nach einem verblüfften Blick sagte er: „Schade, Sina Sonnenschein, du hättest mich verzaubern können.“ und ließ mich los. Die Magie war aus der Situation gewichen wie ein Schleier, der von seinem Gesicht gerutscht war. Darunter erschien ein sanftes Lächeln der Entschuldigung. Die nächste Bahn kam, ich wartete ab, bis der Unbekannte drin war, lief am Zug entlang und stieg drei Türen weiter vorn ein.
Ich war kurz vor einem Schreikrampf. Mit meinen Freundinnen Marcella und Coco verkracht, Felix in die Flucht geschlagen und mit der frisch gewonnen Erkenntnis, dass meine bescheuerte Nettigkeit zum Teil daran Schuld war, fand ich das Leben zum Kotzen. Sicher, ich war voller Reue, war bereit, durch den Staub der Wiedergutmachung zu robben, aber wozu? Damit jemand meinen Weg kreuzte und mich vor die Bahn stieß? Jemand, dem es absolut gleichgültig war, ob ich mein Leben im Griff hatte ? Zum Teufel mit der Reue!
So begann meine Heilung, allerdings über einen kleinen Umweg: morgens am Boden zerstört, trotzdem langsam zu einem neuen Vorhaben aufgerappelt, über eine Knalltüte gestolpert, die meinen Ausraster provozierte und noch vor dem Abend in der Klapper gelandet….
Dabei war ich ursprünglich auf dem Weg zur Therapiestunde. Ja, ich hatte Fräulein Dr. Sowa vor ein paar Tagen wieder angerufen und um einen schnellen Termin gebeten. „Sehr schlimm?“, hatte sie mich am Telefon gefragt. Ich nickte mit engem Hals. In die entstandene Pause hinein sagte sie: „ In Ordnung, ich schiebe Sie irgendwie dazwischen.“
Mir ging es schlecht, ich fühlte mich extrem unsicher, minderwertig, leer, einsam, ängstlich, absolut lustlos zu Tätigkeiten jeglicher Art, hatte Horror vor dem Unterwegssein außer Haus, war niedergeschlagen und weinerlich. Ich hätte mich selbst auf den Müll werfen können. Außerdem schien ich zugenommen zu haben, obwohl ich in den letzten Wochen kaum etwas gegessen hatte. Ich bemerkte es heute Morgen im Gesicht. Ich sah aus wie meine Mutter und wollte nur hineinschlagen.
In dieser Situation auf einen Prinz Arschloch wie den Rempler und seine Art des Umgangs mit anderen Menschen zu treffen, machte mein Vorhaben zunichte.
Frau Dr. Sowa und viele andere setzten aufs Reden. Ja, bis zu einem gewissen Punkt, aber nicht totreden bis alles zerbröselt ist und du nichts mehr übrig hast: keine Trümmer, die du begraben, keine Bruchstücke, die du kitten kannst, nur Leere, Müdigkeit und Fadheit. Eine Zeit lang hatte ich zwar das Gefühl gehabt, es hätte mir genutzt, aber jetzt stand ich genauso zerbrochen wie am Anfang der Quatscherei da. Sicher, ich war nach den Gesprächen mit meiner Frau Doktor Psycho nie so in Rage wie nach der eingeklemmten Hand, aber vielleicht war genau das die Therapie, die ich brauchte, um mich zu spüren.
Meistens war ich tatsächlich nett, ebenso wie schüchtern, sensibel, introvertiert und zog Verletzungen an. Daran war mein fehlendes Selbstbewusstsein Schuld. Etwas anderes hätte mir Dr. Sowa auch nicht gesagt. Also am besten, ich kehrte um und ließ den erbettelten Termin bei ihr sausen.
In dem Gedanken gefangen, wie ich es am besten anstellen könnte mit der Absage an die Freundlichkeit meinen Mitmenschen gegenüber, die mich bei jeder Gelegenheit klein machten, verließ ich bei der nächsten Station den Zug und stieg die Treppe aus dem U-Bahnhof hoch. Ich wollte zu Fuß gehen, ich brauchte frische Luft.
Auf dem Weg kam mir eine Frau mit einem voll beladenen Kinderwagen entgegen. An der Straße fanden irgendwelche Straßenarbeiten statt und der Gehweg war eingeengt durch die ausgehobene Erde der Gräben, die sich an ihm entlang zogen. Ich stieg am Rand eines Sandwalls hoch, um den Kinderwagen vorbei zu lassen. Der balancierte auf dem aufgebauschten Kissen eine Stiege mit verschiedenem Obst, die in der Breite über seine beiden Seiten hinausragte. Auf dem Obst lagen zusätzlich Mohrrüben, Lauch und Blumen. Die Frau lenkte ihren Wagen mit links, mit der rechten Hand hielt sie sich ein Handy ans Ohr, ganz in das Gespräch vertieft. Kurz vor mir holperte der Wagen, machte einen kleinen Schlenker, eine Außenseite der Stiege stieß an meine Hüfte und die Fracht segelte zu Boden. Die ganze Zeit hatte ich mich nicht von der Stelle gerührt.
„Ach Mensch, kannst du nicht aufpassen, musst du dich ausgerechnet da hinstellen?“ tadelte mich die Wagenbesitzerin, auf einmal gar nicht mehr auf ihr Gespräch konzentriert. Da war es wieder, dieses Scheißgefühl, alle anderen erklären mir immer meine Fehler und Unfähigkeiten und sofort fühle ich auch, wie untauglich ich eigentlich zu allem bin.
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