Zwischen Odile und Vicky war ein Stuhl frei. Gegenüber, zwischen Arndt und Berger, saß Angie. Mit den beiden Männern verband mich besondere Vertrautheit, nicht zuletzt wegen ihrer skurrilen Krankheitsgeschichten. Zur Zeit jedoch schmollte ich mit ihnen, weil sie meiner Meinung nach Angie zu sehr hofierten, die ich wiederum überhaupt nicht ausstehen konnte. Für mich war sie eine Lügnerin.
Ich schickte eine Geste der Entschuldigung an die Smolenskaja und versuchte dann, das laufende Gespräch aufzufangen. Angie war darin verwickelt. Sie hatte ein Gesicht wie ein Posaunenengel, die Haare fielen wie Palmwedel über ihren Kopf, in vielen Stufen, sehr dick und sehr blond. Sie reichten ihr bis auf den Rücken, waren aber längst nicht so lang wie meine. Ich musterte sie und dachte: wenn man die Haare länger betrachtete, sahen sie doch eher wie der Pompon eines Cheerleaders aus. Sie faselte gerade über die Romantik des Todes. Ich beugte mich vor, um sie besser zu verstehen, da unterbrach sie ihren Redefluss, gab geräuschvoll mehrere erregte Atemzüge von sich und fächerte sich Luft zu. Vicky beendete als erste das betretene Schweigen, das entstanden war.
Ihr Einwand kam zögerlich: „Ich weiß nicht, mir ist es unangenehm, mir solche Szenen auszumalen. Ich möchte eher davon loskommen, sonst geht es mir nie besser.“
Ihre Freundin, die kleine, derbe Barbara neben ihr nickte und brummte mit ihrer tiefen Stimme, die stets ein wenig missbilligend klang: „Ich glaube, in den meisten Fällen ist es ein spontaner Entschluss. Da denkt man nicht darüber nach, wie man eine filmreife Szene hinkriegt.“
Ich nickte. Als es mir sehr schlecht ging, gab es jeweils nur einen einzigen Tag, und schon den glaubte ich nicht zu überleben. Wie hätte ich da im Voraus planen können?
Ich setzte zu einer Antwort an. Im selben Moment meldete sich ein paar Stühle entfernt Robert zu Wort, ein ruhiger, unauffälliger Mann Mitte dreißig, der sich praktisch nie von allein äußerte. Er flüsterte vor Scham: „Genau, das Wissen, dass das eigene Leben auf ganzer Linie gescheitert ist treibt einen in die totale Vernichtung, das ist keine Party.“ Sein Satz endete in einem Schluchzen.
„Das kann ich bestätigen.“ Die Blicke, die sich bei Roberts Schluchzen gesenkt hatten, hoben sich und wandten sich in die Richtung, aus der die Stimme kam.
„ Die Bereitschaft zum Suizid verspürst du in dir oder auch nicht. Wenn der günstige Moment hinzukommt, dann tust du es oder auch nicht. Aber ernsthaft Gedanken darüber, wie er hinterher für die anderen aussieht, macht sich jemand, der akut unter Druck steht nicht. Sonst könnte er es nicht tun.“ Von wem war das gewesen? Ich musterte die Runde. Ah, unser Lehrer. Lehrer war wirklich Lehrer gewesen, zumindest so lange, bis man ihn vom Dach eines Zwanziggeschossers schleppte. Der musste es wissen. Wollte es richtig machen, mit Abschiedsbrief wie, wo und wann, hatte sich Mut angetrunken und dabei übertrieben, war auf dem Dach gestolpert und hatte sich mit einer Gehirnerschütterung außer Gefecht gesetzt.
Lustlos kippte ich auf meinem Stuhl nach hinten und stellte fest, dass immer wieder die gleichen Dinge erzählt wurden, manche kamen tatsächlich nie heraus aus der Falle.
Aber ich wusste auch, wenn es einem selbst besser ging, wurde man schnell unduldsam gegenüber den anderen in der Gruppe und befahl mir, nachsichtiger zu sein. Nur Angie hatte in meinen Augen keine Nachsicht verdient. Ich stellte mir vor, wie sie ihren Abgang als Event plante: um Gottes Willen keine Dreckwäsche hinterlassen, alle offenen Rechnungen bezahlen, Ehrensache, den Kühlschrank leeren, vielleicht sogar abtauen, ebenso den Müll entsorgen, und nicht vergessen, alle Termine abzusagen, am besten rechtzeitig vorher keine neuen mehr vereinbaren, wohin mit dem Vibrator, noch einmal die Blumen gießen, essen oder nicht, was mach ich bloß, wenn die im Supermarkt meinen Lieblingswein zum Abschied nicht haben, schminken oder nicht, und was zieh ich an? Ich grinste vor mich hin.
„Und was ist jetzt so lustig an dem Thema?“ Angies spitze Stimme zerstach meine Gedanken.
„Nichts, außer der miesen Show, die du hier abziehst“, giftete ich zurück, „Was meinst du, wie lange du dich so schön und konserviert wie Schneewittchen im Glassarg hältst? Soll ich dir sagen….“
„ Jetzt lasst sie doch mal“, wies Arndt uns zurecht, „ Todesszenarien sind für viele sehr ergreifend und beängstigend. Dass sie sich davon mit eigenen Fantasien ablenkt, werdet ihr Angie wohl zugestehen.“
Was war denn mit dem los, fragte ich mich. Litt er unter den Spätfolgen seiner schiefgegangenen Schlaftablettenüberdosis? Ich konnte nichts dafür, dass er seiner Mutter nicht den Gefallen getan hatte, an Stelle seiner Schwester zu ertrinken. Seine Mutter ließ ihn sein Leben lang dafür bezahlen. Natürlich verstand ich, dass Arndt sich geweigert hatte, sie zu pflegen, als sie nach einem Treppensturz im Rollstuhl saß und sich nicht mehr selbst versorgen konnte, jeder von uns hätte das getan. Pech für Arndt war, dass er dennoch richterlich dazu verdonnert wurde. Er versuchte, sich mit dem Freitod aus der Misere zu flüchten, hatte es aber vermasselt, weil er zu wenige Tabletten nahm.
Ich ignorierte ihn einfach und sprach im selben Ton weiter zu Angie: „Deine Todessehnsucht ist lächerlich und ärgerlich, weil sie unecht ist und weil du nur damit spielst.“
Sie protestierte und spuckte dabei vor Aufregung ein wenig: „Ich spiele nicht damit, nur, der erste Eindruck ist wesentlich. Stell dir mal vor, mein kleiner Sohn findet mich.“
Sie wollte allen Ernstes eine schöne Leiche sein, falls ihr Sohn sie finden sollte!
„Prima“, schrie ich sie an, „dann tust du ihm genau das an, was du deinen Eltern vorwirfst: ihn frühzeitig bis auf den Grund seiner Seele zu verletzen und für ein normales Leben untauglich zu machen, du dämliche Kuh.“
Berger sprang auf, rannte zum Fenster, lief dort unruhig hin und her, hielt sich die Ohren zu und rief: „Es wird nicht besser, niemals. Das hält keiner aus.“
Ihm zuliebe war ich bereit, Ruhe zu geben. Er tat mir leid, seine Geschichte war eine von unseligem Pech. Nur einem winzigen Missverständnis war es zu verdanken, dass er Insasse einer solchen Einrichtung geworden war.
In der Zeit davor war Berger ein fröhlicher Bürger gewesen und hatte als ein solcher begonnen, sich ein Wochenendhäuschen zu bauen. Eines Tages stand er vor dem laufenden Betonmischer, ein Kiesel drückte in seinem Schuh und er schüttelte seinen Fuß, um ihn los zu werden. Zufällige Spaziergänger deuteten seine Bewegungen als Zuckungen von einem, der unter Strom steht. Ihr erster Gedanke war: Stromfluss unterbrechen. Mit einer Schaufel schlugen sie Berger aus dem vermeintlichen Stromkreis. Ergebnis: Pneumothorax, Schädel-Hirn-Trauma, Koma…. Seitdem war er wesensverändert, von Ängsten und Depressionen geplagt.
Die Smolenskaja ging zu Berger und redete ruhig auf ihn ein. Aber er wollte am Fenster stehen bleiben.
Angie redete weiter und blickte mich provozierend an: „ Ich möchte wirklich liebend gern meinen Schmerz hinausschreien, aber ich werde ihn nicht los. Er wurzelt so tief und verzweigt in mir, würde ich versuchen, ihn herauszureißen, es würde mich zerfetzen. Eines ist aber noch schlimmer als der Schmerz: vom eigenen Ich entfernt zu sein.“
Arndt streichelte Angies Arm. Diese letzten Sätze hatten eine merkwürdige Wirkung auf mich. Ich glaubte plötzlich, meine Worte zu hören. Meine Worte aus ihrem Mund und ich fragte mich, was es zu bedeuten hatte, wieso Angie sie benutzte. Woher kannte sie meine Gedanken?
Arndts Zärtlichkeit für sie regten mich zusätzlich auf.
„Sag mal, merkst du nicht, wie sie uns alle verarscht, wie sie sich lustig über uns macht?“, fuhr ich ihn an, „Gerade von dir habe ich in diesen Dingen ein klares Gespür erwartet.“
Читать дальше