„Ich bin fasziniert von der Luft“, flüsterte sie, „sie ist das Medium, das uns alle miteinander verbindet….“
„Mich stört die Vorstellung, das einzuatmen, was die anderen ausatmen oder auf andere Art absondern“, murmelte ich.
Coco hielt kurz inne, winkte ab und meinte: „Ruhe, du störst meine Inspiration.“ Eine kleine Weile später schwärmte sie erneut:
„Bis zum kleinsten Härchen meines Körpers bin ich umfangen von ihr. Der Kontakt mit meiner Haut ist übergangslos, ich gehe regelrecht auf in ihr, fühle, wie ich unermesslich wachse. Sie ist mein Atem und durch sie werde ich zu einem Lebewesen. Ich spüre MICH. Bis in den kleinen Zeh. Das ist der Wahnsinn, Sina, Wahnsinn über alle Maßen.“
Ich sprang auf, fasste Coco an die Taille und tat so, als würde ich sie in die Höhe heben. Dabei rief ich theatralisch: „ Jawohl, ein neues Wesen ist luftgeboren und will hinein ins Leben.“ Coco simulierte einen Segelflug und rannte in kleinen Kreisen hin und her: „Einfach da sein, umherdiffundieren, berühren, mich vermischen, wachsen, mich teilen, aufnehmen, abgeben, ja, austauschen mit der Welt, teilhaben, dabei sein dürfen.“
Sie fasste mich bei der Hand: „Komm, lass uns über die Felder fliegen“, rief sie und mit einem Jauchzer zog sie mich mit.
Gemeinsam sprangen wir im Hopserschritt über die Huckelwiese und sangen laut lachend das russische Kinderlied „Immer lebe die Sonne“: „ Budj wsjegda, budjet solntse, budj wsjegda, budjet njeba…..“
Unabsichtlich waren wir mit unserem wilden Geschrei in die Nähe des Gehöftes geraten. Es stand verwaist da und steckte uns mit seiner Stille an.
Plötzlich schoss ein schwarzbraunes Bündel um die Hausecke, das sich in rasender Geschwindigkeit zu einem wütenden Hofhund vergrößerte. Das Verharren in der Blitzstarre, die Kehrtwende auf der Stelle und das Davonstürzen vollzogen sich bei Coco und mir synchron und in einem einzigen Handlungsablauf. Wortlos rannten wir, blieben knapp vor den Reißzähnen des Köters. Irgendwann trat ich in etwas Weiches, Schmatzendes und rannte noch schneller, bis Coco rief: „Es reicht, er ist weg. Zum Glück hat auch die längste Hundeleine ein Ende, mein Gott, die war ja mindestens fünfzig Meter lang oder mehr.“
Ich hob meinen linken Fuß: „Guck mal.“
„ Schöne Scheiße“, sagte Coco, „Ausziehen. Den Strumpf auch.“
Ich zögerte, barfuß weiter zu gehen, mein nackter Fuß ruhte auf dem beschuhten.
„Na, Prinzesschen, hier ist kaum der passende Boden für eine Ballettstunde. Komm, ich nehme dich Huckepack.“
„Schaffst du das?“
Mit dem Kennerblick der Soldatin meinet Coco: „Mehr als mein Sturmgepäck, wenn ich voll aufgerödelt bin, bringst du nicht auf die Waage.“
Sie stapfte mit mir als ihrem Rucksack zu unseren Rädern zurück. Ich hielt Cocos Hals umschlungen und legte meinen Kopf auf ihre Schulter. Während ich überlegte, womit ich mich leichter machen könnte, drehte Coco den Kopf zur Seite und sagte mit der Stimme der SMOLENSKAJA direkt in mein Ohr: „Der Sinn des Lebens ist: zu leben. Mit allem, was du dazu brauchst, bist du ausgestattet.“
Die nächste Böe des Frühlingswindes verwehte das Traumbild und ich erwachte in meinem Klinikbett.
Ich nahm Coco übel, dass sie nicht mit ihrer eigenen gurrenden Stimme gesprochen hatte, obwohl von ihr niemals dieser Therapeutensatz gekommen wäre, auch wenn sie sicher eine Antwort gewusst hätte, sie war ja immer so lebendig. Stattdessen schlich sich die Smolenskaja in meine Träume und machte meine Erinnerungen zu ihrer Lehrstunde.
Ach Coco, ich möchte dich wiederhaben, dachte ich wehmütig und zog mir die Decke bis ans Kinn.
Dann mach die Hausaufgaben, die die Smolenskaja dir aufgetragen hat, befahl ich mir. Jaja antwortete ich mir selbst und im Aufstehen wiederholte ich ganz entschlossen: Ja-ha!
Es war leichter gesagt als getan. Ich schob den Zeitpunkt hinaus, an dem ich mich hinsetzen und mein Leben, was vor allem für mich Ausgrenzung, Kränkung und Ärger bedeutete, Revue passieren zu lassen. Wer riss sich schon darum, sich freiwillig mies zu fühlen, in dem er Dinge heraufbeschwor, die er zuvor mit gutem Grund aus seinem Bewusstsein verbannt hatte.
Beim Frühstück trödelte ich so lange, bis ich allein im Saal saß, die Geräusche auf dem Flur verklungen und sogar die Essenwagen fort waren.
„Nanu, haben Sie heute keine Termine? Nicht mal Sport?“ Eine bekannte Stimme scheuchte mich auf.
„Spezialauftrag“, murmelte ich eintönig.
„Soso, Spezialauftrag“, Schwester Renate zeigte ihr schiefes Lachen, das ich so an ihr mochte.
„Jawohl, zu dem ich einiges recherchieren muss. Sogar Interviews gehören dazu. Zum Beispiel mit Ihnen, Schwester Renate. Sagen Sie, kann man in der Psychiatrie eigentlich nur arbeiten, wenn man total randvoll mit Düsternis, abartigen Gedanken und Reue über eigene Schandtaten ist oder muss man im Gegenteil vollkommen licht und unbelastet sein und gleichzeitig eine Seele besitzen, die immun ist gegen Angriffe der Schlechtigkeit? Wie gehen Sie persönlich mit den Gespenstern Ihrer Vergangenheit um, denen, die sie weggesperrt haben? Oder dürfen die bei Ihnen mit am Tisch sitzen?“
Renate zeigte sich immer amüsierter und setzte sich zu mir: „Sie meinen, ob es Sinn macht, die Schrecken immer wieder zu beleuchten, damit sie blasser und schwächer werden, wie die Gespenster im Märchen, die das Licht fürchten? Jedenfalls behaupten das die Märchentanten.“ Wen sie wohl mit Märchentanten meinte, fragte ich mich und nickte, worauf sie den Kopf schüttelte: „Warum soll man immer wieder traumatische Gefühlssituationen heraufbeschwören? Ich bin eher der Typ, der gern gründlich aufräumt und verdorbenes aussortiert. Nur einmal, dafür richtig. Vorbei ist vorbei.“
„ Schade, hier gibt es nur theoretische Antworten. Ich dachte, wenigstens Sie würden mal mit etwas Brauchbarem rausrücken“, maulte ich enttäuscht.
Renate schwieg. Nach kurzem Nachdenken begann sie zu erzählen: „Wissen Sie, ich war sieben Jahre verheiratet. Sieben Jahre im siebten Himmel. Ich glaubte, neben meinem Mann niemanden anderen zu brauchen, niemanden zu vermissen, nicht einmal ein Kind wünschte ich mir. Bis eines Tages eine Mitarbeiterin mir mit einer pikanten Geschichte klar machte, dass ich sieben Jahre einem Trugbild verfallen war. Ganz plötzlich lag mein Leben in Scherben.“
Renate war es anzusehen, dass sie mit sich kämpfte, ob weitererzählen sollte.
„Es kann ja nur die bekannte schäbige Sache sein“, versuchte ich zu entschärfen und dachte an Felix, was mich auf der Stelle betrübte.
Renate nickte: „Es ging um eine andere Krankenschwester, die auch hier auf dieser Station arbeitete. Sie war, wie alle Kollegen Gast auf meinem Polterabend und musste diesen leider früher verlassen, weil sie Nachtdienst hatte. Mein Mann bot sich damals an, sie schnell in die Klinik zu fahren. Nett, nicht? Ein fast perfektes Alibi, um im Personalumkleideraum gierig übereinander herzufallen. So perfekt, dass sie nicht merkten, wie sie beobachtet wurden. Am nächsten Tag heirateten wir. Er setzte mich die ganze Zeit unserer Ehe einer ungeheuren Situation aus. Alle um mich herum waren im Bilde über diesen Fehltritt, alle außer mir.“
Ausgerechnet einer so feinen Person passiert dieser Mist. Ich fragte neugierig: „Und? Was haben Sie mit ihm gemacht? Lebt er noch? Oder sind Sie etwa noch mit ihm zusammen?“
Renate schüttelte lachend den Kopf: „ Trotzdem waren es die schönsten Jahre meines Lebens und ich bin dankbar, dass ich sie mit ihm erlebt habe. Ich habe ihn geliebt, er hat mich glücklich gemacht. Wenn ich es nie erfahren hätte, wer weiß?“ Renate erhob sich, „Was ich sagen will: vorbei. In einer neuen Liebe würde ich wieder vertrauen.“
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