„ ABER, Frau Doktor“, unterbrach ich sie, „bei allem Verständnis, auf das sogar Typen wie Angie Anspruch haben, als Insider traue ich mir zu, Quatsch zu erkennen. Und Angie hat die ganze Zeit Mist erzählt und die Aktion mit meinem Tagebuch war eine Sauerei, dabei bleibe ich.“
Die Smolenskaja bemühte sich, ein Lächeln wegzudrücken und tat, als hätte sie meinen Einwurf nicht gehört.
„Natürlich müssen Sie nicht alles richtig machen, zumindest nicht beim ersten Mal. Wichtig ist, daraus zu lernen, um die Fehler nicht zu wiederholen. Bei Ihnen zieht es sich allerdings wie ein roter Faden durchs Leben. Ich meine Ihr hohes Aggressionspotential mit regelmäßigem Kontrollverlust, das auf Fehlen von Wut-und Stressbewältigungstechniken hinweist, ich glaube sogar auf das Fehlen einer grundlegenden Konfliktstrategie.“
Meine Therapeutin stand auf, zog sich ihren Arztkittel aus und warf ihn auf die Untersuchungsliege an der Wand. Sie schob sich die Ärmel ihres herbstroten Pullovers bis an die Ellenbogen hoch und wandte sich mir wieder zu: „Ich dachte, Sie wären weiter, wollte Sie sogar demnächst nach Hause schicken.“
„Und wenn ich gar nicht raus will?“
„Wollen Sie damit sagen, dass Sie die ganze Zeit gelogen haben?“
„Gelogen würde ich es nicht nennen.“
Ich hielt ihrem Blick stand. Hatte sie etwa eine bessere Idee, wie man sich vor dem aufdringlichen Engagement der Ärzte und Psychologen retten konnte? Wenn man tausendmal dieselbe Frage beantworten soll, aber wochenlang gar keine Besserung verspürt?
Nein, das sagte ich nicht. Das hatte die Smolenskaja nicht verdient. Mir war klar, dass sie weitere Erklärungen von mir erwartete. Ich sah es jedoch nicht ein, schließlich hatte sie mich her befohlen, ohne mir zu sagen, worum es ging. Jetzt war sie dran.
Dr. Smolenskaja ging im Zimmer auf und ab, die Hände in den Taschen ihrer grauen Stoffhose. Da ich einfach nicht antwortete, sprach sie leicht ungeduldig weiter: „ Wissen Sie, ich tue das alles hier nicht für mich. Sie sind diejenige, die Hilfe braucht und nur Sie haben es in der Hand, ob Sie Ihr Leben wegwerfen wollen. Und eines steht fest: Die Welt dreht sich auch weiter, wenn Sie zugrunde gehen.“
„Die Welt hat sich noch nie für mich gedreht.“
„Jetzt hören Sie aber auf.“
Woher wollte sie es wissen? Wenn ich es doch nie anders erlebt hatte! Warum sollte ich mich in eine Welt zurücksehnen, in der ich von Anfang an unerwünscht war, in der ich mich nie am richtigen Platz gefühlt hatte?
„ Die meisten Menschen mögen mich nicht, lehnen mich ab, das war schon immer so“, sagte ich trotzig, „ zu Anfang war ich nicht dagegen, anders zu sein als andere, weil ich dachte, genau das zeichnete mich vor ihnen aus. Ganz besonders die Jungen mochten meine Art, sie gab mir in ihren Augen etwas Geheimnisvolles. Aber auf Dauer verzeiht die Gemeinschaft einem das Anderssein nicht, sie grenzt denjenigen brutal aus.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Solange sich die Mehrheit etwas einverleiben und eine Mode daraus machen kann, ist es o.k.…“, das Klingeln des Diensttelefons unterbrach mich, ich hielt erschrocken inne. Frau Dr. Smolenskaja drückte den Anrufer weg und nickte mir zu, weiter zu reden.
„Aber einen Charakter oder eine Identität kann man nicht kopieren“, behauptete ich.
„Warum sollte die Gesellschaft auffällige Typen Ihrer Meinung nach ausgrenzen? Es ist der moderne Lifestyle, unverwechselbar und besonders zu sein.“
Es galt aber nur für bestimmte Besondere, nicht für die anderen Besonderen, wie sollte ich es ihr bloß klarmachen, verdammt nochmal! Es war nun einmal so: eine Art wurde akzeptiert, die andere abgelehnt. Ich gehörte zur letzteren Gruppe. Es war sinnlos zu antworten.
So hob ich nur die Schultern beim Luftholen und atmete geräuschvoll und lange aus.
„Was ist mit Ihren Freunden, Ihrer Familie?“
„Mit allen verkracht.“
„Dachte ich‘s mir fast. Umso besser. Ich meine natürlich für den Vorschlag, den ich Ihnen machen möchte.“
„Darf ich vorher noch kurz etwas sagen?“, drängte ich mich schnell in ihre Atempause. Sie nickte, ich wollte etwas gutmachen und ratterte noch schneller: „Ich weiß ja selbst inzwischen, dass ich die Therapie draußen nicht hätte abbrechen dürfen. Ich dachte, den Schlüssel für alles gefunden zu haben, aber ich hatte mich überschätzt.“
Es klopfte stürmisch gegen die Tür, kurz darauf wurde sie aufgerissen und eine aufgeregte Schwester stand vor uns und rief: „ Oh, Entschuldigung, Frau Doktor, ich wusste nicht, dass Sie eine….Ihr Telefon geht scheinbar nicht. Wir brauchen Hilfe im Wachzimmer. Ein Neuzugang macht Probleme.“
Frau Dr. Smolenskaja sprang auf, griff ihren Kittel und rief: „In Ordnung, Claudia, holen Sie den diensthabenden Spätdienst, in zwei Minuten komme ich sofort nach.“
„Ist unterwegs, Frau Doktor“, klang Claudias Stimme schon vom Stationsflur zurück.
Ich erhob mich ebenfalls und wir gingen nebeneinander zur Tür.
„Ich überlege, die Verhaltenstherapie bei Ihnen auszusetzen und Sie zu einem Intensivkurs in Achtsamkeitsausbildung zu schicken.“
„Damit kann ich nichts anfangen.“
„Das besprechen wir in den nächsten Tagen.“, beschloss die Psychologin unser Gespräch.
Sie wollte die Tür zu ziehen, da klingelte das Telefon erneut. Die Smolenskaja lief von der offenen Tür zurück ins Zimmer und drückte auf die Freisprechanlage. Ich hörte eine Stimme sagen: „Hat sich erledigt, Frau Doktor, wir haben zwei Ärzte vor Ort, der Oberarzt kam auch dazu.“
Die Smolenskaja ließ sich auf ihren Stuhl nieder und sah mich an: „ Setzten Sie sich wieder. Wo waren wir stehen geblieben?“ Sie kramte unter den Papieren auf ihrem Schreibtisch ein kleines Heftchen hervor, das sie mir reichte.
„Genaugenommen stellt die Achtsamkeitslehre eine Lebensphilosophie dar, die therapeutisch genutzt wird. Letztlich geht es um das Weiterleben, auf eine bessere Art.“
„Weiterleben ist die Therapie? Da bin ich ja gespannt. Lässt sich daraus ein Sinn für das menschliche Leben erkennen?“
„Wenn die Sache Leben ein Sinn hat, dann liegt er in der Sache selbst. Aber das kann Ihnen Herr Schramm viel besser erklären. Von mir bekommen Sie nur die Hausaufgaben, parallel zu diesem Kurs ihre Beziehungen nach draußen ins reine zu bringen. Fragen sie sich, ob sie alles noch einmal so tun würden, warum, warum nicht, nehmen Sie Kontakt auf, und so weiter.“
„Toll, darauf bin ich ganz scharf“, brummte ich.
„Gerne.“
Landpartie mit Coco, heiße Maisonne und warmer Wind im flachen Land. Das Wäldchen war zu Ende und vor uns lagen rechts und links des Radwanderweges Felder und Wiesen. An einer Stelle, an der der Seitenstreifen breit genug war, legten wir uns mit unseren Rädern ins Gras.
Coco streckte sich und stöhnte wohlig vor sich hin. Mit hochgerecktem Hals, den Oberkörper durch meine schräg nach hinten gestreckten Arme gestützt, schaute ich ringsherum die Gegend ab. Etwa dreihundert Meter von uns entfernt und deutlich abseits von der Richtung unseres Weges ragte ein einsames Gehöft aus dem Grün. Noch weiter dahinter bewegte sich eine kleine Herde Weidetiere nur als undeutliche braune und weiße Punkte. Ich genoss es, dass wir vollkommen ungestört waren, schloss die Augen und legte meinen Kopf in den Nacken.
Außer dem sanften Sirren der Luft hörten wir nur eine Lerche. Sie trällerte genau über uns. Ich blinzelte zu ihr hoch.
„Ihre Stimme flattert wie ihre Flügel“, sagte ich gähnend.
Coco erhob sich, zog die Spange aus meinem Haar und verwuschelte meinen aufgetürmten Haarknoten in alle Richtungen. Sie stellte sich mit seitlich ausgestreckten Armen kerzengrade vor mich hin und ihre transparente Bluse umflatterte und verschleierte die Linien ihres Körpers. Coco trug gern Longblusen im Lagenlook, die standen ihrer großen Statur prächtig.
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