Bei der Geburt ihres Sohnes starb Selara.
Kapitel 1 – Der stumme Junge
Heike war gerade aufgestanden. Ihr erster Weg hatte sie in die Küche geführt, wo sie sich nun mit einer dampfenden Tasse Kaffee die Hände wärmte. Da klingelte das Telefon. Ein erschrockener Blick zur Küchenuhr verriet ihr, dass sie keinesfalls zu spät dran war, wie sie für einen kurzen Moment gefürchtet hatte. Nein, sie war „just in time“, wie man so schön sagt.
Neugierig, wer sie am frühen Morgen, noch vor Arbeitsbeginn, sprechen wollte, stellte sie die Tasse zur Seite, ging zum Telefon und nahm den Hörer ab.
„Hallo?“
„Heike? Hallo, hier ist Stefanie. Könntest du heute etwas eher kommen? Ich muss zum Krankenhaus, ein Kind übernehmen.“
Heike war verwundert.
„Ein Kind übernehmen? Hat das nicht noch eine Stunde Zeit? Warum ist es denn so dringend?“
Heike hörte am anderen Ende der Leitung ein Seufzen.
„Ach Heike, Genaues kann ich dir auch nicht sagen. Der Fall scheint völlig unklar zu sein. Sogar die Polizei ist involviert. Der Junge wurde verwundet im Park gefunden. Es soll ein Pfeil gewesen sein, der noch in seiner Schulter steckte...“
„Ein Pfeil? ...“ Heike war sich nicht sicher, ihre Kollegin richtig verstanden zu haben. „Das ist doch völlig absurd. Wer schießt denn in einem Park Kinder mit Pfeilen ab?“
„Ach Mann, jetzt frag doch nicht so viel. Mach dich einfach auf den Weg, damit du mich hier bald ablösen kannst. Es ist noch keiner hier, der die Sprechstunde für das Jugendamt übernehmen kann und die ersten Leute warten schon!“
Heike überlegte.
„Hey Stefanie, lass mich doch ins Krankenhaus gehen. Es ist nicht weit von hier und so können wir uns das ganze Hin und Her sparen.“
Stefanie schwieg. Doch kurz bevor Heike fragen konnte, ob sie noch dran sei, antwortete sie.
„Also gut, du hast recht. Melde dich dort einfach unten bei der Information. Sie warten schon auf das Jugendamt und sagen dir, wo du hin musst. Solltest du irgendwelche Unterlagen brauchen, rufe an. Ich faxe sie dir rüber.“
„Gut. Dann mache ich mich jetzt auf den Weg. Bis später.“
Damit hängte sie ein und eilte ins Bad, um sich zurecht zu machen.
Eine knappe Stunde später wartete Heike auf einer Krankenstation der Kinderklinik vor Zimmer dreizehn. Sie war vorausgeschickt worden, während die Stationsschwester versuchte, den Polizeibeamten per Ausruf aus seiner Kaffeepause zurück zu holen. Es dauerte nicht lange, da kam ein untersetzter, in Zivil gekleideter Herr, von schätzungsweise fünfundvierzig Jahren, auf sie zu. Mit einem Lächeln streckte er ihr seine Hand entgegen.
„Schulze, mein Name. Und sie kommen vom Jugendamt?“
Heike nickte, während sie seinen Handschlag erwiderte.
„Heike Willing. Ich wurde geschickt, um ein Kind zu übernehmen, das im Park gefunden worden ist...“
„Hm, ja, so ist es.“
„Darf ich etwas über die genaueren Umstände erfahren?“
Der Polizist nickte eifrig und deutete mit einer einladenden Geste auf einen freien Tisch im Aufenthaltsbereich.
„Bevor wir zu ihm hineingehen, sollten Sie in der Tat ein paar Informationen über ihn erhalten.“
Heike folgte der Aufforderung des Beamten, nahm an dem Tisch Platz und sah den Polizisten neugierig an.
„Also...“ Der Polizist räusperte sich kurz. „Der Fall ist äußerst schwierig. Man weiß im Grunde gar nichts.“
Heike musste grinsen. Das waren ja wirklich hilfreiche Informationen... Als der Beamte ihr Grinsen bemerkte, fuhr er hastig fort.
„Der Junge wurde gestern in den frühen Morgenstunden von einem Hundebesitzer im Park gefunden. Er lag bewusstlos am Boden und ein Pfeil steckte in seiner Schulter. Inzwischen hat man sich um seine Verletzung gekümmert und er ist wieder wach. Doch er spricht nicht. Ebenso gibt es keine Vermissten-Meldung, die uns Aufschluss über seine Identität geben könnte. Solange diese aber nicht geklärt ist, müssen wir ihn irgendwo unterbringen. Die Ärzte würden ihn heute gerne wieder entlassen... Jetzt - um genau zu sein. Sie brauchen das Zimmer für einen Patienten, der isoliert werden muss.“
Was für eine seltsame Geschichte , dachte Heike, während sich ein Kloß in ihrer Kehle formte, der ihr das Schlucken schwer machte. Woher kam dieses Kind und was hatte es zuvor erlebt, dass es nun, durch einen Pfeil verwundet und der Sprache beraubt, hier auftauchte, ohne jemandem zu fehlen?
„Wie alt ist der Junge?“, fragte sie.
„Wir schätzen ihn auf sechs oder sieben Jahre.“
„Mhm... Gut, dann will ich ihn mir mal ansehen.“ Bei diesen Worten erhob sich Heike und ging, gefolgt von dem Polizisten, auf das Zimmer zu, in dem sich der Junge befand.
Das Kind saß auf dem Fensterbrett und schaute gedankenverloren über die Stadt, die es von hier oben, aus dem fünften Stock, gut überblicken konnte. Sein linker Arm hing in einer Schlinge und die linke Schulter war verbunden. Dennoch konnte man einen roten Fleck durchschimmern sehen, dort, wo sich die Wunde befinden musste, die der Pfeil dem Jungen zugefügt hatte.
Es war ein dünnes, zähes Kind mit schwarzem, lockigem Haar, und als Heike mit dem Polizisten das Zimmer betrat, schaute es sich erschrocken zu ihnen um. Es erforderte nicht erst den geschulten Blick einer Pädagogin, deren tägliche Aufgabe es war, sich um traumatisierte Kinder zu kümmern, um zu erkennen, dass der Junge etwas Schreckliches erlebt haben musste. Aus aufgerissenen, auffallend blauen Augen starrte er die zwei Menschen an, die sich ihm näherten. Heike sah, wie er am ganzen Körper zu zittern begann und unweigerlich erfüllte dieser Anblick ihr Herz mit einem bitteren Ziehen.
Mit einer knappen Geste signalisierte sie dem Polizisten, stehen zu bleiben, während sie selbst vorsichtig weiter auf den Jungen zuging. Sie versuchte, ihn dabei mit einem Lächeln zu beruhigen, doch mit jedem Schritt, dem sie ihm näher kam, verkrampfte sich sein Körper mehr. Hätte er etwas gehabt, das er festhalten und an sich hätte drücken können, wäre es vielleicht leichter für ihn gewesen, die Furcht zu ertragen, die augenscheinlich jede Faser seines Wesens durchdrang. Heike war sich bewusst darüber, dass dieses Kind kein leichter Fall werden würde. Umso wichtiger war es daher nun, behutsam mit ihm umzugehen und wenigstens ein Fünkchen Vertrauen zu gewinnen.
Der Junge beobachtete die fremde Frau ganz genau. Jede ihrer Bewegungen taxierte er, stetig auf der Hut, sie könne ihm etwas antun, ihn womöglich töten wollen, genau wie der Mann, der plötzlich in sein Leben eingedrungen war und alles zerstörte, was er „zu Hause“ genannt hatte. Es war so schnell gegangen, viel zu schnell. Der Junge hatte gar nicht fassen können, was mit ihm geschah, ja die Bilder begannen bereits in seiner Erinnerung zu verschwimmen, verwandelten sich in einen Strudel aus schwarzem Wasser, in dem sie ertranken. Das letzte, was blieb, war das ängstliche Gesicht seines Vaters. Er hatte ihn zuletzt durch jene seltsame Tür in diese Welt gestoßen, die seine letzte Zuflucht darstellen sollte, seine einzige Chance – soviel hatte der Junge verstanden. Zu dem Zeitpunkt hatte ihn dieser Ausdruck auf den Zügen seines Vaters noch in Panik versetzt, sodass er einfach rannte, wie dieser ihm zurief, bis ein plötzlicher Schmerz in seiner linken Schulter ihm das Bewusstsein raubte. Dann kam die Trauer, als er erwachte und sich in diesem seltsamen Zimmer wiederfand, allein, ohne ihn, umgeben von Menschen in eigenartigen Kleidern und von einem beißenden Geruch, der sie immerzu begleitete, wenn sie auftauchten und sich an seiner Schulter zu schaffen machten. Und nun, nun war er auf seinen Vater bloß noch wütend. Wütend, weil er nicht mit ihm gekommen war.
Was würde ihn nun hier erwarten? War er hier wirklich in Sicherheit? Oder würde man ihn auch hier für das hassen, was er war... Ja, für das, was er war. War dies vielleicht auch der Grund gewesen, warum sein Vater ihn nicht begleitet hatte?
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