Betti und ich warfen erst einander und dann Jan einen Blick zu und nickten schließlich.
„Und Michi?“, fragte ich.
„Auch sie weiß Bescheid und wird hoffentlich nicht immer wieder nachfragen, wenn es keinen wirklichen Grund dazu gibt.“
„Einen Grund wofür?“, hörten wir auf einmal Franzi hinter uns. Jans Augen wurden kreisrund.
„Dich allein in der Küche werkeln zu lassen, während wir uns hier im Flur über den Nachtisch hermachen“, erwiderte Betti lächelnd, als hätten wir nie über etwas Anderes gesprochen. Sie berührte Franzi, die mit dem Gulasch vor uns stand, zur Begrüßung kurz am Arm. „Komm, gib mir das schon einmal. Dann kann ich mich wenigstens ein wenig nützlich machen, wenn ich mich schon bei Euch durchfuttern darf. Oh, riecht das gut! Pass bloß auf, dass ich das hier nicht alles allein esse!“ Bevor Betti mit der Schüssel ins Wohnzimmer verschwand, schaute sie noch einmal über die Schulter zurück und zwinkerte uns zu.
„Dann lass uns mal sehen, dass wir für das hier noch einen Platz im Kühlschrank finden.“ Jan deutete auf die Plastik-Schüssel, die ich immer noch in den Händen hielt. Unmerklich hatten wir beide aufgeatmet, als Betti uns so geschickt aus der Situation herausmanövriert hatte. Nun machten wir uns auf in die Küche, um den Nachtisch kalt zu stellen und den Rest des Abendessens ins Wohnzimmer zu bringen, wo schon der gedeckte Tisch auf uns wartete.
„Puh, ich weiß nicht, wann ich zuletzt so viel gegessen habe!“, stöhnte Jan nach dem Essen und rückte mit seinem Stuhl ein Stück vom Tisch ab.
„Da bist Du nicht der Einzige!“, schloss sich Franzi dem Gejammer an. Wir hatten zu viert alles weggeputzt und hielten uns nun die gut gefüllten Bäuche.
„Aber ich habe doch auch noch Nachtisch mitgebracht“, protestierte Betti halbherzig. „Mousse au Chocolat!“
Bei der Aussicht auf noch mehr Essen rissen wir alle panisch die Augen auf.
„Vielleicht nach einer Pause“, ergänzte sie halbherzig und lächelte gequält. Auch bei ihr war anscheinend gerade nicht mehr wirklich viel Platz.
Während des Abendessens hatten wir über dies und das gesprochen. Wieder einmal war auch die Suche nach einem neuen Mitbewohner für meine Wohnung eines unserer Gesprächsthemen. Seit Jan aus unserer gemeinsamen Wohnung ausgezogen war, hatte ich immer mal wieder jemanden für das leerstehende Zimmer gefunden. Aber oft waren es in der Tat Studenten im ersten Semester, die entweder nach ein paar Wochen das Handtuch schmissen, weil das Studium anscheinend doch nicht das war, was sie sich vorgestellt hatten. Oder aber das Studentenleben wurde dermaßen ausgiebig gefeiert, dass es für mich, der schon im Berufsleben stand, auf Dauer nicht erträglich war, weil ich nach einer anstrengenden Schicht im Restaurant einfach ein wenig Ruhe brauchte. Irgendwann hatte ich Studienanfänger direkt abgelehnt, auch wenn vielleicht der Ein oder Andere unter den Bewerbern ein angenehmer Mitbewohner gewesen wäre. Aber ich hatte einfach keine Lust mehr, es darauf ankommen zu lassen. Dafür war ich einmal zu oft über Alkoholleichen geklettert, um die Musik leiser zu machen, wenn ich nachts von der Arbeit nach Hause kam und in meiner Abwesenheit mal wieder eine Party gefeiert worden war.
„Ich werde nie die Nacht vergessen, in der ich in meinem Schlafzimmer eine wildfremde Frau vorgefunden habe. Die Gute hatte sich einfach mal zum Schlafen in mein Bett gelegt, als es ihr zu viel wurde.“ Beim Gedanken an den Schock, als ich, schon im Halbschlaf, unter die Decke kroch und feststellte, dass ich nicht allein war, musste ich heute, ein paar Monate später, immer noch fassungslos mit dem Kopf schütteln.
„Andere hätten sich vielleicht über so eine Überraschung gefreut“, gab Jan grinsend zu bedenken und verzog kurz darauf schmerzverzerrt das Gesicht, als Franzi ihn mit einem Tritt unter dem Tisch zum Schweigen brachte.
„Glaub mir, ihr markerschütternder Schrei und mein Plumps auf den Boden, als ich rückwärts aus dem Bett fiel, hätten jede noch so kleine Freude zunichtegemacht.“, antwortete ich. Gedankenverloren schwenkte ich das Glas Wein in meiner Hand hin und her. „Es muss doch auch noch vernünftige Mitbewohner geben. Allein kann ich auf Dauer die Wohnung nicht halten.“
Jan nickte verständnisvoll, hatte er doch aus genau diesem Grund damals mich bei sich einziehen lassen. Auch ihm war es lieber gewesen, mit einem Berufstätigen zusammen zu wohnen. Als er mit Franzi zusammengezogen war, hatte er mir die Wohnung überlassen. Ich fühlte mich dort ausgesprochen wohl. Umziehen kam für mich nicht infrage, solange ich es vermeiden konnte. Doch das leere Zimmer war mir auf Dauer einfach zu deprimierend, von der Miete, die ich nun allein zu zahlen hatte, ganz zu schweigen.
„Hast Du schon mal daran gedacht, einen Flüchtling bei Dir aufzunehmen?“, fragte Betti auf einmal. Erst jetzt fiel mir auf, wie still sie den ganzen Abend über gewesen war. Sie hatte sich immer wieder an unseren Gesprächen beteiligt. Aber wie auch im Café hatte sie die meiste Zeit zugehört.
„Einen Flüchtling?“, fragte ich nach.
„Naja, es gibt im Moment viele von ihnen in der Stadt, die Hilfe brauchen und unter wirklich unmenschlichen Bedingungen wohnen. Und es werden immer mehr. Die Stadt sucht händeringend nach Unterkünften und übernimmt sogar zumindest teilweise die Kosten für die Miete. Es gibt Flüchtlinge, die in Mentoren-Programmen untergebracht sind oder ein Praktikum machen und damit schon ein wenig Geld verdienen, um für ihre Verpflegung aufzukommen. Was ihnen aber noch fehlt, ist eine halbwegs angemessene Bleibe und ein Bisschen mehr Kontakt zu den Deutschen. Deswegen sind gerade WGs oder Zimmer bei Familien sehr gefragt, um diese Menschen noch besser in unserer Gesellschaft zu integrieren. Hin und wieder kommen Leute von der Stadtverwaltung in mein Café. Dann schnappe ich so was auf.“
Ich weiß nicht, ob ich Betti schon jemals so lange an einem Stück sprechen gehört habe, und auch sie schien von ihrer kleinen Rede erschöpft zu sein. Wie ein Luftballon, aus dem man die Luft gelassen hat, lehnte sie sich nun zurück und sah mich erwartungsvoll an. Einen Moment lang sagte ich gar nichts und ließ ihre Worte auf mich wirken. Über diese Option hatte ich noch nie nachgedacht, oder, besser gesagt, gar nicht von ihr gewusst.
„Das ist doch bestimmt mit jeder Menge Papierkram verbunden“, gab ich zu bedenken.
„Aber der lässt sich bewältigen. Auf ein paar Wochen mehr oder weniger kommt es doch nicht an, oder? Und wenn Du damit einem Menschen eine Perspektive bieten kannst, ist es das doch wert. Und außerdem,“ sie hob bedeutungsvoll den Finger, „weiß der bestimmt, dass er sich nicht einfach in Dein Bett legen darf.“
Betti
Anfangs schob mein Vater es auf das südländische Temperament meiner Mutter. Sie war eben Italienerin, sagte er sich. Immerhin waren es diese großen Emotionen, in die er sich verliebt hatte, als er bei meinen Großeltern arbeitete. Gegensätze ziehen sich eben an, sagte er sich. Er hatte nie eine Frau gewollt, die ruhig und in sich gekehrt war. Keine Frau, die, wie er, immer erst alles gründlich abwog und angestrengt über jedes Detail nachdachte, sondern eine Frau voller Energie und Spontaneität. Eben eine Frau wie meine Mutter. Und so störte es ihn zuerst auch nicht, wenn sie vor Aufregung schrie und keifte und die Türen zuknallte, als sie frisch verheiratet in ihre erste gemeinsame Wohnung gezogen waren. Als Maria zum ersten Mal während eines Streits Porzellan durch die Küche warf, schob er es auf die Schwangerschaftshormone und ließ sie gewähren. Stumm kehrte er die Scherben auf, als sie aus der Wohnung stürmte, im festen Glauben, dass der Ärger sich legen würde. Und meistens behielt er ja auch recht.
Читать дальше