Sobald in den Nachrichten von Mord oder häuslicher Gewalt die Rede war, hatten wir den Fernseher leiser gestellt oder ausgeschaltet. Wir hatten es vermieden, über unsere eigenen Probleme zu sprechen, um sie nicht zu sehr zu belasten. Erst nach und nach hatten wir begriffen, dass diese übertriebene Vorsicht nicht nötig war. Im Gegenteil: Sie hielten Franzi davon ab, wieder völlig auf die Beine zu kommen. Und so griff sie irgendwann selbst nach der Fernbedienung und stellte den Ton lauter. Oder sie merkte, wenn uns etwas beschäftigte, das wir vor ihr verstecken wollten. Dann fragte sie mit diesen für sie typisch weit aufgerissenen Augen, ob alles in Ordnung sei und ließ nicht locker, bis wir uns schließlich ein Herz fassten und erzählten, was gerade in uns vorging. Sie versuchte, uns immer wieder zu zeigen, dass die Schonfrist für sie nun vorbei war, bis wir es irgendwann begriffen. Diese übertriebene Vorsicht hatten wir uns also nach und nach abgewöhnt und taten in der Regel nun so, als sei all das nicht passiert. Aber die Frage, wie es Franzi ging, stellten wir alle. Immer. Wir alle, damit meine ich zum Beispiel Michi, Franzis ehemalige Mitbewohnerin. Sie war Ärztin in einem der umliegenden Krankenhäuser und versorgte ihre Freundin, wenn Tobias es mal wieder übertrieben hatte mit seinen Prügeleien. Dann gab es noch Mark, der mit Jan zusammen ein kleines Unternehmen mit Importen aus dem europäischen Ausland führte, zu dem in der Innenstadt auch ein Laden gehörte. Franzi war nach ihrem Studium auch im Geschäft der beiden eingestiegen. Sie und Jan hatten sich damals in einem kleinen Café kennengelernt, wo sie so manchen Nachmittag miteinander verbrachten und sich schließlich näherkamen. Die Inhaberin des Cafés, Betti, war mittlerweile auch zu einer guten Freundin der beiden geworden. Und dann gab es da noch mich, Philip. Franzi und ich waren zusammen in unserem kleinen Heimatdorf aufgewachsen. Sie hatte damals Jan und mich einander vorgestellt, als ich zufällig in derselben Stadt landen sollte und Jan ein freies Zimmer zur Verfügung hatte. Wir beide hatten uns daraufhin eine ganze Weile lang eine Wohnung geteilt. Auch jetzt, nachdem er mit Franzi zusammengezogen war, hatten wir regelmäßigen Kontakt. So hatten wir uns auch heute zum gemeinsamen Abendessen in Jans alter Wohnung verabredet, die ich immer noch bewohnte.
Wenn Jan meine Nachfrage nach Franzis Zustand störte, so zeigte er es nicht. „Hin und wieder hat sie noch Albträume.“, sagte er leise. „Sie hat die Therapeutin letzte Woche noch mal gesehen. Die scheint ihr geholfen zu haben. Es geht aufwärts, immer wieder ein Bisschen.“
Ich drückte kurz seinen Arm. Ich würde für ihn da sein, wenn er mal jemandem zum Reden brauchte. Er nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte, drehte sich dann aber herum und steuerte auf die Küche zu.
„Komm, Phil. Ich habe einen Bärenhunger. Und wenn Du Franzi weiter hier allein lässt, ist gleich nichts mehr übrig für uns!“
„Warum wolltest Du eigentlich Koch werden?“, fragte Jan mich unvermittelt, nachdem wir alle gegessen hatten.
Ich überlegte einen Moment. „Ich weiß es gar nicht so genau“, gab ich schließlich zu. „Als ich meine Ausbildung begann, liefen im Fernsehen noch gar nicht so viele Kochsendungen, die mich beeinflusst haben könnten. Kochen war lange nicht so `in`, wie es heute ist. Aber ich fand schon immer, dass ein schöner Abend im Kreise von Freunden oder der Familie durch nichts zu übertreffen ist. Und mit einem guten Essen wird so ein Abend erst richtig perfekt. Tja, und dann wollte ich eben lernen, wie ich so ein gutes Essen selbst richtig hinbekomme.“
„Und das mit Erfolg“, sagt Franzi und deutet auf die leeren Schüsseln und Teller. „Ich finde, das sollten wir öfter machen. Vielleicht laden wir noch Mark und Michi ein. So eine Art `Perfektes Dinner` für Freunde. Was meint Ihr?“
„Aber ohne Punktevergabe, oder?“, fragte Jan.
„Und ohne durch die Wohnungen der anderen zu rennen und in jede Schublade zu glotzen!“, schob ich schnell hinterher. Bei dem Gedanken daran, gerade heute jemanden in mein Schlafzimmer zu lassen, stellten sich in meinem Nacken sämtliche Haare auf.
Sie zuckte mit den Schultern. „Es muss ja kein Wettbewerb werden. Aber wir sehen einander kaum noch. Wann haben wir denn zuletzt alle zusammen an einem Tisch gesessen? Die Arbeit vereinnahmt uns so stark, dass wir anschließend eigentlich nur noch auf die Couch fallen. So ein gemütlicher Abend mit einem netten Essen wäre da doch ein tolles Gegenprogramm.“
„Und würde uns zwingen, mal wieder die Pizza vom Lieferservice nebenan liegen zu lassen“, grinste Jan. Er und ich waren begeistert. Nun mussten wir nur noch Michi und Mark mit ins Boot holen.
Wie wichtig diese Abende werden würden, ja, dass sie mein Leben grundlegend verändern würden, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.
Betti
Meine Mutter Maria war eine junge Frau, als meine Großeltern damals beschlossen, nach Deutschland einzuwandern. Freunde von ihnen waren bereits hier und hatten sich ein neues Leben aufgebaut. Viel hatte man ihnen versprochen von „Bella Germania“. Hier sollte es ihnen bessergehen als zu Hause im fernen Italien. Doch dass man ihnen in dem kleinen Dorf, wo sie landen würden, zunächst mit Argwohn begegnen sollte, dass man sie „Spaghettifresser“ nennen würde, das hatte man ihnen nicht gesagt. Die Leute warfen ihnen hinter vorgehaltener Hand vor, dass sie den Deutschen nur das Geld aus der Tasche ziehen und damit wieder in ihre Heimat verschwinden würden. Dass der Staat für sie viel mehr tue als fürs eigene Volk. Mit dem Knüpfen von Kontakten taten sie sich dementsprechend schwer, sprachen sie doch keinen Brocken deutsch. Die Einheimischen ignorierten sie weitgehend, im Dorf wurde die Familie geschnitten. Meine Großeltern ließen sich trotzdem nicht unterkriegen. Ein kleines leerstehendes Gebäude in der Nähe des Marktplatzes war schnell gefunden. Mit jeder Menge Arbeit, Schweiß und der Hilfe der wenigen anderen Italiener, die es in unsere Gegend verschlagen hatte, bauten sie es nach und nach zu einem gemütlichen Lokal um. Einen kleinen Kredit hatte mein Großvater bei der Bank herausholen können - keine Ahnung, wie er das angestellt hat. Die Renovierungskosten und auch die Miete für die ersten Monate konnten sie damit zumindest vorerst bezahlen, und so feierte es bald Eröffnung, ihr eigenes kleines Restaurant „da Giovanni“.
So sehr die Leute in unserem Dorf auch über die Italiener schimpften, so sehr genossen sie das Essen, das meine Nonna ihnen servierte. Schnell sprach sich herum, dass es bei Giovanni die besten hausgemachten Nudeln im Umkreis gab. Das herzliche Auftreten meiner Großeltern tat sein Übriges. Mit einem Mal war das Lokal ständig gut gefüllt und der Andrang ließ nicht nach. Abends kamen die Arbeiter auf ein schnelles Bier an der Theke herein, um den Feierabend einzuläuten. Am Wochenende war unser Restaurant ein beliebtes Ziel für Familien: Ja, meine Großeltern waren in Deutschland angekommen.
Spätestens seit die beiden in einen Steinofen für hausgemachte Pizza investiert hatten, konnten sie die Arbeit nicht mehr allein stemmen. Mein Opa hatte von Geburt an ein Herzleiden und die Arbeit in der heißen Küche fiel ihm vor allem in den Sommermonaten immer schwerer. Meine Grußmutter sprang zwischen Theke und Küche hin und her, um ihn zu entlasten, während meine Mutter im Gastraum kellnerte. Doch auch Nonna wurde nicht jünger, und so kam auch sie an die Grenze der Belastbarkeit. Schließlich wurde der junge Oliver als Küchenhilfe angestellt, um die Situation zu entschärfen. Oliver und Maria verbrachten von da an sehr viel Zeit miteinander. Speziell unter der Woche, an ruhigeren Tagen, zogen meine Großeltern sich gern einmal zurück und ließen Maria und Oliver allein, wenn sich der Gastraum langsam leerte. Schon nach kurzer Zeit waren die beiden jungen Leute so gut aufeinander eingespielt, dass meine Großeltern keine Bedenken hatten, ihnen an manchen Tagen das Ruder gänzlich zu überlassen. Es kam, wie es kommen musste: Irgendwann verliebten Oliver und Maria sich ineinander. Schon bald klingelten die Hochzeitsglocken. Meine Großeltern waren sehr konservativ, weißt Du. Und wenn das junge Paar noch länger mit der Hochzeit gewartet hätte, wäre der Babybauch meiner Mutter nur allzu deutlich unter dem weißen Brautkleid zu sehen gewesen.
Читать дальше