"He, Kleiner! Wo bist du denn ausgebrochen?", rief irgendjemand, worauf die Menge zu lachen begann. Valentin ließ die Idioten links liegen. Er hatte soeben eine wahrhaftige Leiche gesehen und war damit völlig bedient. Doch je weiter er rannte, desto klarer wurde ihm, dass das alles nichts nützte. Der ehrenwerte Herr Zacharias war tot. Aber wenn er ihm noch einen letzten Dienst erweisen wollte, dann sollte er schnellstens umkehren und den Schlüssel für die geheimnisvolle Kammer finden, noch ehe der Landstreicher zuschlagen konnte. Also lief er wieder zurück - in jenen Laden, dessen Dach von den Krähen bevölkert wurde.
Krrrrrrx...krrrrrrx...krrrrrrx...
"Tut mir leid...ähm, dass Sie tot sind", flüsterte er, als er eintrat. Herr Zacharias saß noch immer friedlich in seinem Sessel und hielt den unverschämten Rasselwecker in der Hand. Und wieder musste Valentin mit aller Macht gegen den Drang ankämpfen, Hals über Kopf die Flucht zu ergreifen.
Willkürlich öffnete er die Glastür einer Standuhr, denn der Kammerschlüssel, so war er sich sicher, musste sich in einer der Uhren befinden. Dann versuchte er es bei der Uhr mit der tanzenden Ballerina und einer übergroßen Wanduhr. Die goldene Tischuhr mit der Glaskuppel und das kitschige Wetteruhrenkabinett wurden ebenfalls unter die Lupe genommen. Aber es half nichts - die geheimnisvolle Kammer blieb verschlossen.
Es war aussichtslos. Enttäuscht ließ er sich auf einen Stuhl fallen und dachte darüber nach, ob es nicht vielleicht doch klüger wäre, einfach die Polizei zu rufen und diesen Ort auf schnellstem Wege zu verlassen.
So verstrichen die Minuten. Und wie er da seine Blicke über die stillstehende Zeigerarmee schweifen ließ, kam ihm plötzlich eine Idee. Dieser Laden bestand nunmal nicht nur aus Uhren. Da waren schließlich auch die vielen Bücher, die der Antiquitätenhändler stets wie rohe Eier zu behandeln pflegte.
...und äußerste Vorsicht bitte. Diese Werke sind noch handschriftlich verfasst..."
Es gab da nämlich ein altes Buch, das eine Art Sonderstatus genoss. Es war nicht in die Regale eingeordnet worden, sondern hatte seinen Platz inmitten einer ausladenden Glasvitrine gefunden. Dieses Buch sah zumindest danach aus, noch handschriftlich verfasst worden zu sein. Aber viel wichtiger war, dass es eine kleine Besonderheit besaß: In seinem Buchdeckel war nämlich eine geschmiedete Uhr in Form einer mittelalterlich dargestellten Sonne eingearbeitet. Und jetzt, da er diese (im wahrsten Sinne des Wortes) literarische Uhr genauer unter die Lupe nahm, fiel ihm auf, dass auch sie noch munter tickte. Hatte Herr Zacharias in Erwartung seines bevorstehenden Todes tatsächlich vergessen, sie anzuhalten?
Vorsichtig hob er das gewaltige Werk aus der Vitrine. Und kaum hatte er den monströsen Buchdeckel aufgeklappt, da erklang auch schon eine kleine Melodie, wie bei einer Spieluhr. Er schüttelte das Buch, und es rasselte im Uhrwerk - der Schlüssel.
Um ihn zu erreichen, musste man allerdings schon in der Lage sein, das gesamte Uhrwerk zu öffnen - für einen Uhrmacher sicher nur eine Fingerübung, aber für einen dummen Jungen, der gerade gut genug war, mit dem Staubwedel herumzufuchteln..?
"Moment mal", flüsterte Valentin. Erst jetzt bemerkte er am unteren Ende des eisernen Uhrwerks ein weiteres Ziffernblatt in Form einer mittelalterlichen Sonne. Es besaß zwei kleine Zeiger. Und wenn man die drehte...
Klack...klack...klack!
Da vernahm er in Gedanken die Stimme des Alten. Was hatte er ihm noch über die Zeit alles erzählt?
Ich brauche nur am Zeiger zu drehen, schon ist die verlorene Zeit wieder aufgeholt. So kann man sie überlisten...
Die Sonnenuhr stellte also eine Art Zahlenschloss dar. Aber wenn man nicht wusste, auf welche Zeit man sie einstellen musste, blieb der verdammte Schlüssel wohl für immer und ewig darin eingesperrt.
"Nur eine Zeigerdrehung", wiederholte Valentin die Worte des Alten. Und im gleichen Moment fiel ihm ein, dass auf dem Chronographenkompendium ebenfalls eine Uhr in Form einer mittelalterlichen Sonne abgebildet war. Aufgeregt hastete er zum Tisch der Registrierkasse, wo Herr Zacharias das edle Buch immer aufbewahrte. Das goldene Uhrensymbol zeigte 8 Uhr 37.
Komisch , dachte er. Alle stillstehenden Uhren des kleinen Geschäfts zeigten ebenfalls 8 Uhr 37, so als hätte der ehrenwerte Herr Zacharias schon vorher gewusst, dass sein Leben irgendwann genau um diese Zeit enden sollte.
Klack...klack...klack!
Valentin drehte die Zeiger der kleinen Sonnenuhr auf 8 Uhr 37, bis dieses leise, ja wahrhaft meisterliche Klacken zu hören war. Wenig später hielt der blasse Junge den geheimnisvollen Kammerschlüssel in der Hand.
"Danke", flüsterte er leise. "Danke für den Vortrag über die Zeit."
Eine kleine behaarte Raupe hatte sich inzwischen durchs Papier der literarischen Uhr gefressen und räkelte sich zufrieden in einem Häufchen Papiermehl. Erstaunt kratzte sich Valentin am Kopf.
"So sehen die also aus..."
Kapitel 4 - Gefahr im Anflug
Der Landstreicher war auf seinem Weg zum Antiquitätengeschäft in eine der übelsten Gegenden der Stadt geraten. Betonschluchten, Müllcontainer und verlassene Fabrikhallen mit eingeschlagenen Fensterscheiben. Dies war die Welt der Graffiti-Sprayer, der Hinterhof-Ganoven und der Drogendealer.
Ein Jugendlicher mit schiefer Brille kam ihm entgegen. Sein Hemd war zerrissen, und zu einem Bad in einer Dreckpfütze hatte man ihn offenbar auch noch genötigt. Der Anblick des Landstreichers gab dem armen Jungen nun den Rest. Entsetzt fing er zu schreien an und lief davon.
"Ja, lauf zu Mama, du Verlierer! Und beim nächsten Mal drückst du´n paar Scheine mehr ab, sonst hau´n wir dich platt!", rief ihm eine hämische Stimme hinterher.
Die Stimme gehörte einem wüst aussehenden Schläger, der zusammen mit ein paar Gleichgesinnten auf einer Mauer saß und gerade ein paar Geldscheine in seiner Lederjacke verschwinden ließ. Seine Arme waren über und über tätowiert, noch dazu von jemandem, der offenbar keine Ahnung vom Tätowieren hatte. Es sah aus, als hingen da zwei tote Krokodile aus den hochgekrempelten Jackenärmeln.
Als der Mann die Gruppe passierte, bewarf ihn jemand mit einer leeren Bierdose. Sofort brach Gelächter auf der Mauer los. Er blieb stehen und musterte die sieben Gestalten.
"Oh", höhnte der Rüpel mit der Lederjacke. "Da ist uns doch glatt ´ne Dose ausgekommen..."
Das Gelächter nahm augenblicklich zu.
"Hey, du Klumpfuß", höhnte der Anführer weiter. "Die Straße gehört uns. Also..."
Er machte mit seinen Fingern die berühmte Geste, die nichts anderes bedeutete als: Geld her!
Doch der Mann stapfte unbeeindruckt weiter.
"Ey!", brüllte der Halbstarke, warf seine Zigarette weg und sprang von der Mauer. "Haste nich kapiert? Die Straße gehört uns. Kohle her!"
"Halt den Rand, du erbärmlicher Wicht", raunzte der Mann unbeeindruckt zurück, fasste ihm ins Gesicht und schubste ihn weg.
"WAS HAT DER GESAGT?! Leute, ich glaub, da braucht jemand ein paar aufs Maul!"
Auf ein Handzeichen hin sprangen nun auch die anderen Halbstarken von der Mauer. Sie trugen alle hellgraue Kapuzenjacken und Sonnenbrillen und zückten ihre Messer und Baseballschläger.
Da packte der Riese ihren vorlauten Anführer plötzlich am Kragen und schleuderte ihn mit ungeheurer Wucht gegen die Mauer, so heftig, dass alle Luft aus dem aggressiven Jungen wich. In Sekundenschnelle war jegliche Angriffslust aus seinem Gesicht verflogen.
"Hast du ein Problem, du Wurm?", fauchte der Landstreicher und blickte ihm tief in die Augen.
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