Anschließend war er auf das Dach gestiegen, um dort eine wahrhaft furchteinflößende Vogelscheuche zu errichten. Das wird die Viecher vertreiben , hatte er prophezeit und dem Antiquitätenhändler eine gesalzene Rechnung geschrieben.
Nun gilt es als höchst ungewöhnliche Maßnahme, Vogelscheuchen auf Dächern zu beherbergen, aber Valentin fand, dass das Ding sehr gut zu dem alten Stadthaus passte. Es war ein schäbiges, in Lumpen gekleidetes Holzgerippe mit einem vertrockneten Kürbiskopf, welches der Mann einfach an die Dachantenne gebunden hatte. Es baumelte dort wie an einem Galgen, und wenn man genauer hinsah, dann konnte man sogar erkennen, dass irgendein seltsames Kraut aus seinem fratzenartigen Kopf wucherte. Bei einem Gewitter musste der Anblick wahrhaft furchteinflößend gewesen sein, da es schon bei jedem noch so schwachen Windstoß zu wackeln begann. Irgendwie schien es dem bizarren Strangulienchen dort oben so richtig zu gefallen. Wahrscheinlich vertrieb es sich die Zeit damit, Blitze einzufangen und sich über die vorbeiziehenden Passanten lustig zu machen.
Hätte Herr Zacharias nur einen einzigen Blick auf das Dach seines Hauses geworfen, wäre er sicher sehr empört gewesen. Aber der Alte ahnte offenbar nichts von besagter Maßnahme , sondern kümmerte sich lieber um seine geliebten Uhren. Valentin war sich jedoch sicher, dass es bald Ärger mit dem Ordnungsamt geben würde, schließlich haben Vogelscheuchen nunmal rein gar nichts auf Stadthausdächern verloren. Und dieses Gerippe trug zweifellos das Potenzial in sich, bei einem Sturm ungefragt den Standort zu wechseln...
Im Kampf gegen die verhassten Krähen erwies sich die Vogelscheuche übrigens als völlig unbrauchbar, da die Tiere den zerfledderten Gast schnell in ihr geheimnisvolles Krähenherz geschlossen hatten. Und so fiel eben weiter munter Vogeldreck vom Dach.
Als wieder einmal ein besonders üppiger Klatscher das Schaufenster besudelte, legte der Alte seine Zeitung beiseite und machte seinen Angestellten darauf aufmerksam: "Wenn Sie bitte diese Unannehmlichkeit beseitigen würden, Herr...äh..."
Kurz darauf stand sein Gehilfe bei brütender Hitze vor dem Schaufenster und versuchte, das Ärgernis von der Scheibe zu wischen. Dies war widerlich und hochriskant, da man dabei natürlich Gefahr lief, von weiteren Unannehmlichkeiten getroffen zu werden. Und so kam es, wie es kommen musste - nur weitaus perfider als gedacht...
"He, du!", rief da plötzlich eine Stimme. "He du, mit dem blassen Gesicht..!"
Das Unglück sollte nun über den plumpen Jungen hereinbrechen, ganz leise, aus dem Hinterhalt, und es hatte sich dabei noch eine recht hübsche Verpackung ausgewählt: Mädchen.
Sie kamen einfach wie aus dem Nichts dahergelaufen, so als hätten sie ihr ganzes Leben nur auf diesen einen Moment gewartet. Es waren keine gewöhnlichen Mädchen, sondern zwei wahrhaft umwerfend aussehende Exemplare vom Typ Mitten-in-den-Sommerferien , die einem im wahrsten Sinne des Wortes die Kinnlade herabfallen lassen konnten - mit langen Haaren, sonnengebräunter Haut, in engen Bauchfrei-T-Shirts, mit Sonnenbrillen, die sie in ihre Frisuren gesteckt hatten, Eiscreme und den natürlich obligatorischen Smartphones in den Händen. Zwei Mädchen, die offenbar gerade eine gute Zeit hatten. Und zwei Mädchen, die einen Jungen in einem höchst lächerlichen Aufzug sahen...
"Heee, duuu!!!", rief eine der beiden Schönheiten erneut. Im Spiegelbild der Fensterscheibe konnte Valentin erkennen, dass sie ein Schmetterlings-Tattoo am linken Oberarm trug.
"Ich?", stammelte er unbeholfen und wünschte sich ganz schnell in das Gewächshaus mit den indischen Lupinen zurück.
"Ja, dich meine ich! Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du wie ein gebügelter Clown aussiehst?"
"Häää?", fuhr er aus allen Wolken, während die Mädchen in wildes Gelächter ausbrachen. Entsetzt blickte er auf seinen antiquierten Sonntagsanzug herab. Dunkelgrüüün...
"Ähm, ich...Verzeihung!"
Worauf die beiden Blondinen erst richtig losprusteten: " Verzeihung! Pahahaha..!"
"Jetzt verrate mir mal eines", rief das Mädchen mit dem Tattoo, dem der Lachanfall nun schon die Tränen in die Augen trieb. "Was in aller Welt bewegt einen Menschen nur dazu, einen so derart lächerlichen Fetzen anzuziehen? Jobbst du etwa als Couchgarnitur?"
Wieder bogen sich die beiden vor Lachen.
"Und was wischst du denn da für ein komisches Zeug vom Fenster?", rief ihre Freundin.
Platsch! Volltreffer!
"Vogelkacke", gab Valentin niedergeschmettert zu und ließ die Schultern hängen. Die Mädchen fielen vor Lachen fast um.
"Steht dir gut!", quietschte das Mädchen mit dem Tattoo vergnügt. "Und noch viel Spaß mit deiner... Vogelkacke . Pahahaaa!"
Dann nahmen sie ihre Sonnenbrillen aus den vom Sommerwind umgarnten Haaren, wie in einem Werbespot, setzten sie auf und zogen kichernd weiter.
"Das war jetzt mal ein richtiger Trottel!"
"Ja, der war wirklich völlig bescheuert. Käffchen, Sweety ?"
"Käffchen..."
Der plumpe Junge in dem besudelten Anzug blickte auf den Lappen, mit welchem er eben das Fenster abgewischt hatte und fühlte sich einfach nur erbärmlich. Zur falschen Zeit am falschen Ort - was für ein peinlicher Moment. Und wie ein Echo hämmerten nun die Worte des alten Antiquitätenhändlers durch seinen Kopf: Die Zeit ist durch nichts aufzuhalten, eine nicht zu bändigende Macht. Zeit kann nicht repariert werden. Wenn es zu spät ist, bleibt es zu spät. Es ist niemals wieder gutzumachen...
Und er hatte vor Aufregung tatsächlich Verzeihung gesagt...
Niedergeschlagen trottete er zurück zur Eingangstür und wischte sich den Dreck von seiner Schulter. Doch er sollte keine Gelegenheit bekommen, sich weiter über sein Unglück zu ärgern. Als er die Tür des Ladens öffnen wollte, packte ihn nämlich urplötzlich jemand am Arm und schob ihn rücksichtslos zur Seite.
"Aus dem Weg!", herrschte ihn eine finstere Gestalt an und stapfte in wahrhaft unverschämter Art und Weise in Herrn Zacharias´ Laden hinein. Es war ein Landstreicher, der einen löchrigen Mantel trug und sich mit einem krummen Gehstock vorwärts hangelte. Die vermeintliche Behinderung schien ihn jedoch kaum zu beeinträchtigen, so schnell, wie er sich damit bewegen konnte. Sofort legte sich eine Schnapswolke in die Luft. Als ihm Valentin folgen wollte, drehte er sich um und donnerte: "Draußen bleiben, Freundchen!"
Dann schlug ihm der Mann die Tür vor der Nase zu.
"Danke, sehr nett", ärgerte er sich und rüttelte an der Klinke. Doch die Tür ließ sich nicht mehr öffnen, obwohl sie der Widerling nicht abgesperrt haben konnte. So sehr Valentin auch daran zerrte, sie war keinen Millimeter mehr zu bewegen.
Da begann im Inneren des Ladens ein wilder Tumult.
"Nun, Lester Zacharias, du weißt, weswegen ich gekommen bin. Rück sie raus, sofort!" brüllte der Riese.
"Niemals!", schrie der Antiquitätenhändler. "Verlassen Sie sofort meinen Laden! Ich rufe die Polizei!"
"Das wird dir nichts nützen..."
So ungehobelt, wie sich der grobschlächtige Mann benahm, stand zu befürchten, dass er nicht lange fackeln und seinen Gegenüber schon im nächsten Augenblick umbringen würde. Valentin ließ von der Tür ab und versuchte, durchs Schaufenster zu erspähen, was im Laden vor sich ging. Der Ganove hatte den Antiquitätenhändler am Kragen gepackt und gegen eines der Bücherregale gedrückt.
"Ich weiß, dass du sie in der Kammer dort versteckt hältst!", brüllte er. "Also, her mit dem Schlüssel!"
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