Nun mag man sich fragen, wie dieser Junge überhaupt den Weg in diesen Laden finden konnte - und was den gewissenhaften Mann nur bewogen hatte, dies auch noch zu dulden.
Der Zufall war es, der Valentin Kraus einst in das kleine Geschäft an der Ecke führte. Nichts als reiner Zufall. Denn eigentlich hätte er diesen Job gar nicht nötig gehabt, schließlich besaßen seine Eltern ja eine kleine Gärtnerei, wo immer eine Menge Arbeit anfiel. Doch das Schicksal hatte ihm, dem ewigen Verlierer, schon früh die Grenzen aufgezeigt. Valentin Kraus kämpfte nämlich nicht nur mit den Tücken der Schwerkraft, sondern litt obendrein auch noch unter einem äußerst hartnäckigen Heuschnupfen - ein Problem, welches ihm schon im sommerlichen Alltag zu schaffen machte.
Im Alter von fünf Jahren hatte er einmal Bekanntschaft mit indischen Lupinen gemacht, die wunderbar dufteten und ihm zeigten, was so ein schlechtes Karma alles anrichten kann. Er überlebte zwar, musste seither aber um alles, was nach Gärtnerei aussah, einen großen Bogen machen.
Der Heuschnupfen war auch der Grund, weswegen man ihm oft vorhielt, ein wenig zu blass um die Nase zu sein. Aber es gab einfach nichts, was er dagegen tun konnte. Der plumpe Junge auf der Leiter war wohl einfach kein Kind des Sommers, mehr gab es dazu nicht zu sagen.
Eine Anzeige in der Tageszeitung war es schließlich gewesen, die ihn in dieses seltsame Geschäft führen sollte: Antiquitätenhandel L. Zacharias - klein und unscheinbar, gedruckt in einer biederen Schriftart, mit wenigen Worten und einer Telefonnummer. Ein dunkler Ort, der wie geschaffen schien für das Blassgesicht.
Inzwischen wusste er, dass besagte Nummer ein stilvolles Telefon klingeln ließ, welches auf einem Tischchen mit Spitzendeckchen stand. Natürlich war es mit peinlichster Sorgfalt auf Hochglanz poliert worden. Und weil sich wirklich kein einziger Fingerabdruck darauf befand, ging Valentin davon aus, dass es vom Antiquitätenhändler tatsächlich nach jedem Telefonat neu aufpoliert wurde. Vielleicht benützte Herr Zacharias aber auch die weißen Stoffhandschuhe zum Telefonieren. Er trug sie bei besonderen Anlässen und sah damit aus wie ein englischer Butler. Ein Butler, der die Ruhe und Erhabenheit dieses Ladens zu schätzen wusste - genau wie das prunkvolle Telefon, welches es sich doch tunlichst verbat, von Anrufen jeder Art belästigt zu werden...
"Wenn Sie sich bitte die Hände waschen würden, bevor Sie mit dem Abstauben fortfahren, Herr...äh...", tadelte der Alte seinen Angestellten, wobei ihm dessen belangloser Nachname auch diesmal nicht einfallen wollte. Er konnte es wohl auch kaum verstehen, warum sein Gehilfe es einfach nicht schaffte, diese Frevelnase im Zaum zu halten. Dem Jungen mangelte es ganz offensichtlich an der nötigen Kontenance . Er war ganz und gar ungeeignet für diese Tätigkeit.
Dabei hatte Valentin nicht nur mit seiner Allergie und dem Bücherstaub zu kämpfen. Es lag natürlich auch an dem Temperaturschock, den man zwangsweise erlitt, wenn man den Laden des edlen Herrn Zacharias betrat. Es war schließlich ein heißer Morgen im August, und das Thermometer sollte laut Wetterbericht die 30-Grad-Marke noch vor zwölf Uhr überschreiten.
Doch die Hitze schien aus irgendeinem Grund einen Bogen um das kleine Geschäft zu machen. Kümmerliche 13 Grad zeigte das Quecksilber in dem liebevoll verzierten Wetterhäuschen an der Wand. Warum - das konnte Valentin zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht wissen. Er vermutete, dass es einfach eine unerklärliche Eigenheit dieses Ladens war. Altes Gemäuer eben. Sehr altes Gemäuer...
Was für ein dummer und überaus unbeholfener Junge , dachte Herr Zacharias, während sein Gehilfe auf seine Leiter stieg, um einige Schriften mit dem Titel Die Zeichen der Zeit abzustauben.
"Äußerste Vorsicht bitte im Umgang mit diesen Büchern", ermahnte ihn der Alte sogleich. "Diese Werke sind genau 242 Jahre alt, vom Dichter noch handschriftlich verfasst worden und demnach unersetzlich. Äußerste Achtsamkeit, bitte..."
"H-hmmm", machte Valentin und verbeugte sich sogar dabei. "Sehr wohl."
Da betrat plötzlich eine ältere Frau den Laden, die viel besser zum Stil des Inventars passte als der schniefende Kobold auf seiner ewig wackelnden Leiter. Sie trug einen weißen Sommerhut, eine dazu passende Handtasche und hatte auffallend rot lackierte Fingernägel. Es war unübersehbar: Die Dame hatte Stil - auch wenn ihr Gesicht ein wenig unnatürlich aussah, etwas überschminkt und der vielen Schönheitskuren überdrüssig. Sie interessierte sich für eine Uhr im Schaufenster.
"Eine Uhr?", fuhr der Antiquitätenhändler aufgebracht herum.
"Ja, diese in Gold gefasste Uhr dort", sagte die Frau und rieb sich wegen der Kälte sogleich die Arme. "Das ist doch echtes Gold, oder?"
"Aber selbstverständlich, gnädige Frau", sprudelte es aus dem Verfechter der ganz alten Schule nur so heraus. "Das ist allerfeinste Kunst aus einer Mailänder Manufaktur. 1837 hergestellt, hat dieses Stück einst zum Besitz einer hiesigen Gräfin gehört. Hervorragender Adel, versichere ich Ihnen."
"Ich kaufe sie."
Herr Zacharias starrte ihr ungläubig ins Gesicht. "Nein, nein, gnädige Frau, das ist unmöglich. Haben Sie eine Vorstellung, wie teuer dieses Stück ist?"
Unverzüglich zückte die Frau ihre goldene Kreditkarte. "Ach, ich bitte Sie. In meinen Kreisen spielt das doch nun wirklich keine Rolle."
Herr Zacharias wirkte nun geradezu verzweifelt. "Nein..."
"Wie bitte?"
"Äh, ich meine...oh, oooh! Ich sehe gerade...welch ein Ärgernis! Ich bin untröstlich, gnädige Frau. Doch zu meinem Bedauern kann ich Ihnen diese Uhr nicht verkaufen."
"Warum nicht?", fragte sie.
"Weil diese Uhr...weil diese eine Uhr...äh...bereits verkauft ist. Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung, dass mir dies nicht schon vorher aufgefallen ist."
Valentin hatte bereits geahnt, dass es der Antiquitätenhändler hasste, wenn ein Kunde die Absicht äußerte, eine seiner Uhren zu kaufen. Es sprudelte zwar nur so aus ihm heraus, wenn ihn jemand nach dem geschichtlichen Hintergrund oder einer besonderen Eigenheit einer Uhr fragte, aber er benahm sich dabei eher wie ein Sammler, der stolz über seine neuesten Errungenschaften philosophiert.
Nein, Herr Zacharias mochte vielleicht Kommoden, Grammophone oder Vasen verkaufen - doch so, wie er sich anstellte, wenn es um einen seiner tickenden Zeitgenossen ging, konnte man direkt meinen, er hätte noch nie im Leben eine Uhr an irgendjemanden veräußert. Dafür waren sie ihm viel zu sehr ans Herz gewachsen. Und im Chronographenkompendium war hinter keinem einzigen seiner Schätze jemals das Wort verkauft vermerkt worden. Herr Zacharias kaufte Uhren - aber er ver kaufte sie nicht. Niemals.
"Verkauft?", hakte die Frau nach. "Aber wie kann das denn sein? Sie steht doch hier im Schaufenster."
"Nun, äh...dafür gibt es ganz gewiss einen plausiblen Grund, gnädige Frau. Ich nehme an, mein glückloser Angestellter hier hat sie noch nicht..."
Mit einem strengen, ja geradezu bösen Blick musterte die Frau den plumpen Jungen, der auf seiner Leiter stand und gerade am Kragen seines Anzugs herumzupfte.
"...er hat sie noch nicht ausgeliefert", vollendete der Alte seinen Satz.
"Soso", meinte die Frau, wobei ihr Blick nur noch herablassender wurde. "Nun ja. Gutes Personal ist heutzutage eben nur noch sehr schwer zu finden."
"Sie sagen es, Sie sagen es, verehrte Dame", stimmte ihr der Antiquitätenhändler erleichtert zu. "Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein?"
"Nein, nein", erwiderte sie und reichte ihm ihre Karte. "Wenn Sie noch einmal eine derartige Uhr...nun, Sie wissen schon. Rufen Sie mich einfach an."
"Selbstverständlich, gnädige Frau, selbstverständlich", sagte Herr Zacharias, verbeugte sich höflich und öffnete ihr die Tür. Als sie den Laden verlassen hatte, warf er die Karte in den Abfalleimer.
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